Wider das Vergessen
An die Fakten erinnerte eingangs Dr. Berthold Broll, Vorstand der Stiftung Liebenau: „519 Menschen wurden aus unseren Einrichtungen deportiert. Von 505 Menschen wissen wir sicher, dass sie ermordet wurden. Von drei wissen wir sicher, dass sie überlebt haben.“ Der Stiftung Liebenau sei es ein großes Anliegen, „die Erinnerung an die schrecklichen Verbrechen wachzuhalten, die an wehrlosen Menschen begangen wurden“, betonte Broll. Dass sie nicht vergessen sind, verdeutlichte eine Toninstallation: Sie lief im Hintergrund und nannte zu Beginn der Gedenkstunde jeden Namen der Liebenauer Opfer, die 1940 und 1941 in den Gasmordanstalten Grafeneck und Hadamar starben.
Immer geht es um Menschen
Was haben sie gedacht, empfunden oder vielleicht noch sagen wollen? Monika Taubitz hat Gespräche mit Zeitzeugen zu einer dokumentarischen Erzählung verarbeitet, die 1984 erschienen ist. Bei der Lesung verlieh die inzwischen 82-jährige Autorin erneut jenen Menschen eine Stimme, die selbst nicht mehr sprechen können. Eindrucksvoll schilderte sie zum Beispiel die Seelenqualen des damaligen Direktors, der entscheiden sollte, wer von den grauen Bussen abgeholt werden sollte. „75 müssen es sein“, in der nächsten oder übernächsten Woche wieder 75. Und wenn sie nicht auf einer Liste genannt werden, dann werden sie wahllos herausgegriffen.
Ergreifende Schicksale
Viele Details sind in die dokumentarische Erzählung hineingewoben und machen das Unvorstellbare spürbar: Erwähnt wird zum Beispiel ein Junge, der beim Abtransport seinen Teddy im Arm hielt, während sich andere verzweifelt an ihre Betreuerinnen klammerten oder sich schweigend in ihr grausames Schicksal ergaben. Einfühlsam beschreibt Monika Taubitz, wie die Schwestern die Säcke mit zurückgeschickter Kleidung durchsuchten und feststellten: Dieser Pullover gehörte dem Epileptiker Klaus. Jene Strickweste hatte die taubstumme Maria getragen. Und das inzwischen vertrocknete Brötchen hatte eine Schwester dem kleinen Jochen zugesteckt. Erschütternd war auch die Schilderung der letzten Lebenstage von Herbert. Er ahnte, dass auch er eines Tages auf der Liste stehen würde und hatte Angst. An dem Tag, an dem er abgeholt werden sollte, floh er. Doch er kehrte zurück. Denn er musste immer daran denken, wen sie wohl an seiner Stelle genommen hätten. „Ein anderer hätte sterben müssen“, sagte Herbert und stieg in den Bus ein. Denen, die zurückblieben, stockte der Atem.
Momente des Schweigens und des Gesprächs
Bei der Lesung im Saal der Schlosses Liebenau herrschte an dieser Stelle ergriffenes Schweigen – ähnlich wie zuvor schon in der Schweigeminute, zu der sich alle im Gedenken an die ermordeten Menschen erhoben hatten. Es war einer jener Momente, in denen Worte unangebracht erscheinen. Dennoch bedurfte es der Worte, um sich über das Gehörte auszutauschen. So entwickelten sich anschließend bei einem kleinen Imbiss noch viele gute Gespräche unter den Besucherinnen und Besuchern der Gedenkveranstaltung.