Referent Gerold Abrahamczik, selbst Vater eines schwer mehrfachbehinderten erwachsenen Sohnes, zeigte sich begeistert über den vollen Saal, trotz der „schweren Kost“. Im Bereich der Umsetzung des BTHG ab 1. Januar 2020 auf Landesebene seien noch viele Punkte unklar. Für ihn ist daher sicher, dass es in der Anfangsphase auch zu Rechtsstreitigkeiten kommen wird. Hier hat der Deutsche Bundestag im Gesetz jedoch die Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen gestärkt: Unbestimmte Rechtsbegriffe im BTHG seien stets im Sinne der UN-Behindertenkonvention auszulegen.
Der Mensch im Mittelpunkt
Das BTHG hat zum Ziel, Menschen mit Behinderungen durch individuelle Unterstützung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Im Mittelpunkt steht die so genannte Personenzentrierung. Die Frage für den einzelnen Menschen mit Behinderung lautet künftig: Wo und wie will ich wohnen? Wie will ich leben? Wo will ich arbeiten? Wie will ich meine Freizeit verbringen?
Angehörige müssen selbst aktiv werden
„Informieren, informieren, informieren“, riet Abrahamczik. Neben unabhängigen Beratungsstellen liefern bestimmte Internetseiten aktuelle Infos (s. u.). Wichtig sei es, die Anträge auf Grundsicherung und Eingliederungshilfe und, unter Umständen, auf Hilfe zur Pflege rechtzeitig vor Ende des kommenden Jahres zu stellen. Erst ab dem Monat der Antragsstellung würden Leistungen erbracht. Die Antwort auf die Frage, ob das jeweilige Landratsamt auf die Angehörigen zukomme, lautete: „Nein, sie müssen die Anträge selbstständig stellen.“ Momentan könne man als Angehöriger noch nicht viel tun. Zur Vorbereitung auf die Teilhabeplanung riet er aber dringend, sich ab sofort intensiv mit der Lebenssituation des Angehörigen auseinanderzusetzen: „Schreiben Sie alles kleinteilig auf, was für ihren Angehörigen wichtig ist.“ Und weiter: „Mir ist wichtig, dass sie sich auf die Bedarfsermittlung gut vorbereiten.“
Große Veränderungen beim stationären Wohnen
Die gravierendsten Veränderungen wird es im Bereich des stationären Wohnens geben, im BTHG „gemeinschaftliches Wohnen“ genannt. Ab Januar 2020 ist jeder Mensch mit Behinderung selbst Mieter. Hierfür bekommt er Grundsicherung für Miete und Mietnebenkosten sowie Essen. Menschen in stationären Einrichtungen erhalten einen bestimmten Aufschlag, um die naturgemäß höhere Miete bezahlen zu können und nicht gezwungen sind, in günstigeren Wohnraum umzuziehen.
Herausforderung individuelle Bedarfsermittlung
Die Fachleistungen – finanziert aus der Eingliederungshilfe – unterteilen sich in neun Lebensbereiche, unter anderem in Lernen und Wissensanwendung, Mobilität, häusliches Leben und interpersonelle Interaktionen und Beziehungen. Die Ermittlung des jeweiligen persönlichen Bedarfs wird die große Herausforderung. „In Baden-Württemberg werden 33 Erprobungslandkreise mit je fünf Klienten Erfahrungen sammeln, darunter auch der Bodenseekreis“, erläuterte Christine Beck, Geschäftsleitung Bereich Wohnen der Stiftung Liebenau.
Vorbereitung auf Teilhabeverfahren
Bei der künftigen Teilhabeplanung sitzt der Leistungsträger am Tisch, zusammen mit dem Leistungsberechtigten, seinem Angehörigen oder gesetzlichen Betreuer. Möglich ist auch die Teilnahme einer Person seines Vertrauens. Werden Pflegeleistungen benötigt, ist auch die Pflegeversicherung mit dabei beim sogenannten Gesamtplanverfahren. Spätestens bei diesen Gesprächen können detaillierte und differenzierte Notizen über den eigenen Angehörigen mit Behinderung von großem Nutzen sein.