Endlich die Antwort
„Für mich war es auf jeden Fall eine Erleichterung“, sagt Anja Pluto über ihre Diagnose Autismus. Viel zu lange musste die heute 41-jährige Ärztin darauf warten, bis sie es endlich schwarz auf weiß hatte, warum sie sich „irgendwie anders“ fühlte. So vieles erklärt sich nun rückwirkend erst. Nein, es ist keine Persönlichkeitsstörung, wie man ihr einmal fälschlicherweise attestieren wollte. Und nein, auch kein ungelöstes Problem aus der Kindheit, das man in vielen Psychotherapiesitzungen herauszufinden versuchte. „Dabei hätte ich konkrete Hilfe gebraucht, kein Wühlen in der Vergangenheit.“ So kamen bei ihr sogar Schuldgefühle auf, „weil die Therapien alle nicht anschlugen, obwohl ich mich sehr bemüht habe. Irgendwie hat nichts richtig gefruchtet.“ Stattdessen bekam sie von anderen immer wieder gesagt: Du bist intelligent, gutaussehend, gut ausgebildet – warum klappt es in deinem Leben nicht? „Jetzt“, so Anja Pluto, „habe ich eine Antwort“.
Begegnung im Bus
Eine Antwort darauf, warum es nach abgeschlossenem Medizinstudium im Beruf zunächst nicht funktionieren wollte. Mehrfach trat sie eine Stelle als Ärztin an. „Aber das ging nie lange gut.“ Sie überforderte sich, wollte zu viel. Schließlich landete sie in einem Job als Kleinbusfahrerin für Menschen mit Handicap. Unter ihren regelmäßigen Fahrgästen: drei Autisten. Und irgendwann war ihr klar: „Wenn DIE Autismus haben, dann habe ich das auch.“ Zum ersten Mal habe sie sich mit etwas identifizieren können, und so reifte die Erkenntnis in ihr: „Ich glaube, ich habe Autismus.“ Zuvor sei diese Möglichkeit trotz ihrer Odyssee von Behandlung zu Behandlung nie in Betracht gezogen worden. Sie sei ja „schwingungsfähig“, hieß es immer.
Ein erster Online-Test lieferte nun aber bereits ein ziemlich eindeutiges Ergebnis und bestätigte sie in ihrer Ahnung: „Jetzt brauche ich eine seriöse Diagnose.“ Über Umwege wurde sie schließlich an Dr. Stefan Thelemann, Kinder- und Jugendpsychiater sowie Leiter des Fachdienstes Diagnostik und Entwicklung im BBW, verwiesen. Von ihm und seiner Kollegin, der Psychologin Gabriele Schneider, bekam Anja Pluto nicht nur die Diagnose – ja, es ist tatsächlich Autismus – sondern zu ihrer Überraschung auch gleich ein Jobangebot dazu. „Ich war perplex“, erzählt Pluto.
Neuanfang im BBW
„Wenn nicht bei uns, wo sonst?“, meint Dr. Thelemann zu der spontanen Offerte. Als Autismus gerechtes Berufsbildungswerk passt hier das Umfeld, eine offene Stelle war gerade zu besetzen, Anja Pluto hat die entsprechende Qualifikation. Und zudem kann sie ihr Wissen insbesondere auch an die Jugendlichen mit Autismus authentisch weitergeben. Diese – derzeit sind es im BBW über 130 – profitieren vom Erfahrungsschatz der Ärztin, gerade was die Hürden beim Jobeinstieg angeht. Eine „Win-Win-Win-Situation“ sozusagen. „Ich hätte sonst vielleicht nie mehr als Ärztin gearbeitet“, freut sich Pluto über die unverhoffte Wende in ihrem Berufsleben. Im Sommer 2019 stieg sie in Teilzeit im BBW ein. Ihr Arbeitspensum soll nun – mit Rücksicht auf die Autismus spezifische Belastungssteuerung – langsam gesteigert werden. Dr. Thelemann ist schon jetzt froh über den Neuzugang in seinem Team und ist sich sicher: „Warum soll es bei uns nicht klappen?“