Verhaltensprobleme besser verstehen
Der niederländische Facharzt für Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie Prof. Dr. Anton Došen hat sein „Schaal voor Emotionele Ontwickkling“ (SEO) schon vor Jahren entwickelt und damit neue Wege in der Diagnostik und Therapie von Verhaltensproblemen gewiesen. Beim „Internationalen Fachtag zur emotionalen Entwicklung (SEO) bei Menschen mit geistiger Behinderung“ hielt er im Ravensburger Schwörsaal den Eröffnungsvortrag. Seine Kernaussage: „Die emotionale Entwicklung ist die Basis für die Ich-Werdung.“ Dieser Grundbaustein steht für Prof. Došen sogar an erster Stelle in der Persönlichkeitsentwicklung – und in einer Wechselbeziehung zu kognitiven und sozialen Fähigkeiten und Bedürfnissen. „Bei Menschen mit geistiger Behinderung ist nicht nur die kognitive und soziale, sondern auch die emotionale Entwicklung beeinträchtigt“, erklärte er in seinem Vortrag. Aus dieser Erkenntnis heraus hat er ein Modell mit fünf Entwicklungsstufen entwickelt, die einem bestimmten Lebensalter zugeordnet sind. Dies hilft, die Persönlichkeit besser zu verstehen, die Ursache von Verhaltensproblemen zu erkennen und daraus Strategien zur Therapie zu entwickeln.
St. Lukas-Klinik gehört zu den Vorreitern
Denn oft klaffen das emotionale und kognitive Entwicklungsniveau auseinander. Die Beispiele der eingangs erwähnten Patientinnen verdeutlichen dies: Sie waren aufgrund eines für sie belastenden Ereignisses vorübergehend auf den emotionalen Entwicklungsstand von dreijährigen Kindern zurückgefallen, was sich durch Verhaltensprobleme wie Aggression und Verweigerung äußerte. Die Beispiele stammen aus dem Alltag der St. Lukas-Klinik der Stiftung Liebenau. Sie hat als einer der Vorreiter in Deutschland schon im Jahr 2010 begonnen, mit SE0 zu arbeiten und „aus der wissenschaftlichen Erkenntnis einen pragmatischen Arbeitsvorschlag entwickelt“, wie Chefarzt Dr. Jürgen Kolb beim Fachtag sagte. Er stellte als weitere Stufe SEO 6 vor, die die „soziale Autonomie“ in einem Entwicklungsalter von 12 bis 18 Jahren beschreibt.
Gute Erfolge in der Therapie mit SEO
Dass die St. Lukas-Klinik gute Erfolge in der Anwendung von SEO verzeichnet, berichtete Dr. Brian Fergus Barrett. Statistisch messbar wird dies dadurch, dass nach einer an SEO ausgerichteten Therapie in vielen Fällen der Einsatz von Psychopharmaka verringert werden kann. Barrett folgerte daraus: „Die Erkenntnisse von SEO und eine auf die sozio-emotionale Entwicklung des Klienten abgestimmte Milieutherapie sollten zum Standard gehören.“
Konzepte für die praktische Arbeit
Die folgenden Referenten des SEO-Fachtages beleuchteten weitere Aspekte der emotionalen Entwicklung. So stellte Prof. Dr. Paula Sterkenburg aus den Niederlanden eine spezielle Therapieform für Menschen mit geistiger Behinderung und frühen Bindungsstörungen vor. PD Dr. Tanja Sappok aus Berlin widmete ihren Vortrag dem Thema „Emotionale Entwicklung und Autismus im Dialog“. Die Diplom-Pädagogin Sabine Zepperitz sprach über den Nutzen des emotionalen Entwicklungsansatzes in der pädagogischen Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung.
Das Bundesteilhabegesetz im Fokus
Zu Beginn hatte Dr. Michael Konrad vom Sozialministerium Baden-Württemberg in seinem Grußwort die Bedeutung des Fachtages auch im Zusammenhang mit dem Bundesteilhabegesetz hervorgehoben. Es bedürfe noch großer Anstrengungen, um dieses Gesetz umzusetzen, sagte er und fügte hinzu: „Die Stiftung Liebenau hat bereits sehr viel getan, um auch Menschen mit schwersten Behinderungen zu integrieren, gut zu versorgen und zu rehabilitieren.“
Internationale Arbeitsgruppe NEED
Eingebettet war der SEO-Fachtag in ein Treffen der internationalen Arbeitsgruppe NEED (Network of Europeans on Emotional Development). Diesem im Jahr 2015 gegründeten Netzwerk gehören etwa 30 Fachleute aus verschiedenen europäischen Zentren zur Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung an, darunter Ärzte und Psychologen der St. Lukas-Klinik. Die Arbeitsgruppe hat das Ziel, den emotionalen Entwicklungsansatz SEO weiter zu verbreiten und in ein wissenschaftlich validiertes Instrument zu überführen.