Bundestagswahl 2021

Die gelernte Krankenschwester sowie Politik- und Gesundheitswissenschaftlerin konnte hier Erfahrungsberichte direkt aus der Praxis mitnehmen. Dabei ging es insbesondere um die enorme psychosoziale Belastung von Bewohnerinnen und Mitarbeitern im tagtäglichen Spannungsfeld zwischen Sozialer Teilhabe und Sicherheit.

Hohe Belastung und Solidarität

Viele sich laufend ändernde Gesetze und Vorgaben während der ersten drei Wellen, Gesundheitsbehörden mit uneinheitlichem Vorgehen, Ängste um das Wohl der Bewohnerinnen, die eigene Familie und um sich selbst, sich sorgende Angehörige und ein hoher öffentlicher Druck – all diese Erfahrungen und der Umgang hiermit bewegen viele Mitarbeiter und Verantwortliche bis heute. Mit viel Kraft, einem hohen Maß an Solidarität   und Engagement in der Belegschaft und mit Unterstützung von außen z.B. durch die Bundeswehr gelang die Bewältigung der bisherigen Wellen.

Mit einem bangen Gefühl richtet sich der Blick daher nun auf den kommenden Herbst/ Winter und eine mögliche vierte Welle: Welche Vorbereitungen laufen auf Bundesebene, um auf eine mögliche 4. Welle im Herbst reagieren zu können? Wie steht es um Empfehlungen zu Auffrischungsimpfungen und eine zukünftige Unterstützung des Pflegepersonals von außen, wenn sich die pandemische Lage mit Blick auf Pflege- und Gesundheitseinrichtungen wieder verschärfen sollte? Sind der Politik diese Themen bewusst?

Rückschlüsse für Krisenmanagement und Pflegepolitik

Frau Schulz-Asche bedankte sich für das große Engagement der Pflegenden in den zurückliegenden Monaten. Sie machte deutlich, dass dieser direkte Einblick wichtig und hilfreich für die politischen Entscheidungsträger sei. Die verantwortlichen Stellen in Politik und Wissenschaft arbeiteten mit Hochdruck an Lösungsvorschlägen und Handlungsempfehlungen. Die gemeinsame Analyse dieser Erfahrungen aus der Praxis, wie auch hinsichtlich des Krisenmanagements von Politik und Verwaltung, sei bereits jetzt notwendig, um Rückschlüsse für die kommenden Wochen und Monate zu ziehen – ebenso wie für die Zeit nach der Pandemie auf allen Ebenen.    

Hr. Dr. Lahl merkte an, dass es hier ebenso wichtig sei, Rückschlüsse für die Weiterentwicklung des Pflegesystems insgesamt zu ziehen. Auch die Corona-Pandemie zeige, wie wichtig eine umfassende Strukturreform der Pflegeversicherung weiterhin bleibe. Exemplarisch hierfür stünden die Stärkung des Versorgungsleitbilds Sorgender Gemeinschaften mit Case- und Care-Managementstrukturen für sozialraumorientiertes Arbeiten in Quartieren, das Voranbringen von Digitalisierung und Technisierung in der Pflege sowie die Ermöglichung neuer Wohn- und Betreuungsangebote zwischen ambulant und stationär. Denn diese und weitere Maßnahmen trügen entscheidend dazu bei, dass Pflegekräfte entlastet werden könnten, so Lahl.

Einigkeit bestand darin, dass eine gute Finanzierung der Pflege weiterhin sichergestellt sein müsse. Nur so könne eine finanzielle Entlastung von Pflegebedürftigen und deren Familien sowie eine bessere Bezahlung von Pflegenden erreicht werden.

Es ist schon länger her, dass Heimleiterin Lena Hutzel eine Besuchergruppe durch das Haus Magnus in Waldburg geführt hat. Dabei hat das Pflegeheim am Ortsrand viel mehr zu bieten als den schönen Ausblick ins Allgäu. Erst im Januar begrüßte Hutzel hier die ersten Bewohner im modernsten Haus der Stiftung Liebenau, das neben den 30 Pflegeplätzen auch 15 barrierefreie Senioren-Appartements in direkter Nachbarschaft bietet. In diesen gehören technische Assistenzsysteme und regelmäßiger Kontakt zu Pflegekräften zum Angebot. „Ein Haus, wie es sich jeder Bürgermeister wünschen würde“, lobte Axel Müller. „Aber gerade in Corona-Zeiten haben wir alle gemerkt, wie schwierig es derzeit ist, das entsprechende Personal dafür herzubekommen“, sagte der Bundestagsabgeordnete und Kandidat der CDU.

Mitarbeitende fordern verlässliche Dienstpläne

Diesen Eindruck konnte Stefanie Locher, Geschäftsführerin der Liebenau Leben im Alter, nur bestätigen. „Die Mitarbeitenden, die wir in der Pandemie verloren haben, werden schwer zurückzubekommen sein. Eine Problematik, die sich nicht zuletzt negativ auf die Verlässlichkeit der Dienstpläne auswirkt, die ein ganz wichtiges Anliegen unserer Mitarbeitenden ist“, sagte Locher. Hier könnten beispielsweise Rentnerinnen oder Rentner aus Sozialberufen helfen. Aktuell seien die Möglichkeiten, geringfügig Beschäftigte einzusetzen, allerdings sehr stark eingeschränkt. Eine mögliche Rückkehr zum Freiwilligen Sozialen Jahr, die auf Lochers Wunschliste ganz oben steht, sah vor allem Benjamin Strasser sehr kritisch. „Dazu müsste zuerst die Wehrpflicht wieder eingeführt werden, was wir als FDP, schon aus Gründen der Wehrgerechtigkeit, nicht mittragen möchten“, sagte Strasser. Er sehe in der Generation Z dennoch ein großes Potenzial für die Sozialbranche. „Viele junge Menschen möchten nach dem Schulabschluss nicht sofort in den Job und probieren sich lieber noch aus. Darin besteht eine große Chance.“

Pflege? Ein tolles Berufsbild

Unerwartete Rückendeckung erhielt er von der Sozialdemokratin Heike Engelhardt, die im negativen Image der Pflegebranche einen Hauptgrund für die Personalmisere sieht. „Es handelt sich um ein tolles Berufsbild, das aber vielen Vorurteilen ausgesetzt ist, zu denen im Übrigen auch die vermeintlich schlechte Bezahlung gehört. Wenn wir mehr jungen Menschen ermöglichen, Erfahrungen in der Pflege zu sammeln, können wir etwas an diesem Bild verändern und auch das Selbstbewusstsein der Pflegenden stärken“, sagte Engelhardt.

Bei all den Rückblicken und Prognosen, lag es an der Einrichtungsleiterin noch einen vorsichtig optimistischen Blick auf die Gegenwart zu werfen. „Natürlich sind wir in unserem Haus mit WLAN versorgt und aktuell dabei, uns schrittweise zu digitalisieren. Gerade in der Dokumentation hoffen wir so, künftig weniger Zeit für bürokratische Abwicklung aufzuwenden und dafür mehr Zeit für unsere Bewohnerinnen und Bewohner zu haben“, sagte Lena Hutzel. Das Fazit eines informativen Nachmittags für alle Beteiligten zog schließlich Gastgeber und Vorstandsmitglied Dr. Berthold Broll: „Es gibt noch jede Menge zu besprechen und vor allem zu tun! Schön, dass wir das nun endlich wieder in persönlichem Rahmen tun können.“

200.000 Rechnungen scannen Manfred Meier und seine Kolleginnen und Kollegen mit Behinderungen in den Liebenauer Werkstätten jedes Jahr. Damit nicht genug, jeder Vorgang wird hier direkt ins SAP-System eingepflegt und den entsprechenden Sachbearbeitern zugeordnet. Ein Arbeitsplatz wie jeder andere? „Eigentlich schon“, erläuterte Manfred Maier, „Ein Job auf dem ersten Arbeitsmarkt ist für mich trotzdem schwer zu bekommen.“ Zu groß sei auf Unternehmensseite die Scheu vor dem Betreuungsaufwand, so sei ihm bereits ein regulärer Praktikumsplatz wegen des erhöhten Pflegebedarfs abgesagt worden. „Ein flexiblerer Betreuungsschlüssel würde uns hier zumindest erlauben, die Tätigkeiten für die Menschen mit Behinderungen attraktiver zu gestalten, insbesondere wenn es um Grünpflegearbeiten geht, die hier sehr beliebt sind“, formulierte Jörg Munk seinen Wunsch an die Vertreter der Politik.

BTHG: Innovativ aber schwer umsetzbar

Kontroverser verlief die anschließende Diskussion um die Herausforderungen des neuen Bundesteilhabegesetzes (BTHG), das für den Geschäftsführer der Liebenau Teilhabe die größte Veränderung der Sozialgesetzgebung seit den 60er-Jahren darstellt. „So innovativ das BTHG ist und so eng, wie es sich an der UN-Behindertenrechtskonvention orientiert, so sehr geht es in seiner jetzigen Form leider an der Lebensrealität, insbesondere der Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf vorbei“, sagte Munk. So lasse das Gesetz den gezielten Blick auf die individuellen Herausforderungen der Menschen mit Behinderungen und die unterschiedlichen Settings, in denen sie leben vermissen. Zugleich stelle die Umstellung auf das Neue eine enorme Herausforderung dar. Als Beispiel nannte Munk die Vorgabe, künftig mit jedem Betreuten einer Pflegeeinrichtung einen eigenen Mietvertrag abschließen zu müssen und die Nebenkosten separat abzurechen. Ein bürokratischer Aufwand, der sich zu Lasten des Betreuungsumfangs auswirken würde. In Anbetracht der bevorstehenden Koalitionsgespräche und unabhängig von deren Konstellation appellierte Michael Brock, Vorstand der Stiftung, an die Wahlkreiskandidaten, sich für Nachbesserungen des BTHG stark zu machen. „Ich habe die Angst, dass aus einem guten Gesetz, hinter dem wir politisch auf ganzer Linie stehen, etwas wird, von dem die Menschen mit Behinderungen am Ende nicht profitieren“, so Brock. Als positives Beispiel nannte er erste erfolgreiche Schritte beim Bürokratieabbau im Bereich der Altenpflege, die in den letzten Jahren von der großen Koalition auf den Weg gebracht wurden.