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Seelische Gesundheit im Focus

MECKENBEUREN-LIEBENAU - Am 10.10. ist der Welttag der seelischen Gesundheit. Aus diesem Anlass haben wir mit Stefan Meir aus der St. Lukas-Klinik gesprochen.

Tag der psychischen Gesundheit Stefan Meir

Stefan Meir ist Heilerziehungspfleger, Psychologe und psychologischer Psychotherapeut und arbeitet in der psychiatrischen Institutsambulanz der St. Lukas-Klinik.

Tag der psychischen Gesundheit

Gerade in schwierigen Lagen brauchen wir die Sicherheit, nicht allein zu sein und in einem sozialen Gefüge gehalten zu werden.

Tag der psychischen Gesundheit

Gönnen Sie sich, den Wechsel zwischen körperlicher Anstrengung und Entspannung zu erleben.

Herr Meir, können Sie Ihren beruflichen Kontext kurz umreißen?

Wir arbeiten mit Menschen, die häufig an einer komplexen Erkrankung leiden. Das bedeutet, dass sie neben einer intellektuellen Beeinträchtigung oft auch körperliche Erkrankungen und psychische Probleme haben. Aus diesen können dann, oft aus der Interaktion mit einer Umgebung, die nicht zu den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Betroffenen passt, auch psychische Erkrankungen entstehen. Menschen können Belastungen häufig lange kompensieren, sofern sie gute „Strategien“ haben, um Probleme zu bearbeiten und zu lösen. Passen diese Strategien nicht oder steht man längere Zeit komplizierten und belastenden Situationen gegenüber, steigt das Risiko, psychisch zu erkranken. 

 

Bei Menschen mit Behinderungen ist diese Thematik noch viel drastischer. Statistisch gesehen haben Menschen mit Behinderungen ein 30 bis 40 Prozent höheres Risiko, psychisch zu erkranken. Sie leben oft mit körperlichen Beeinträchtigungen und können Belastungen oder Beschwerden oft nicht gut erkennen oder gar benennen. In manchen Aspekten der Persönlichkeit verläuft ihre Entwicklung verlangsamt oder unvollständig. Somit entsteht ein komplexes Bild, das einen guten Umgang mit sich selbst oder den Betroffenen erschwert. Im Extremfall sind unsere Patientinnen und Patienten, z.B. körperlich erwachsene Menschen, emotional jedoch auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkindes. Viele von ihnen hatten über Jahre hinweg besonderen Unterstützungs- oder Betreuungsbedarf und konnten wenig Autonomie entwickeln. Auch Sinnesbeeinträchtigungen, Einschränkungen der kognitiven Kapazität, traumatische Erfahrungen oder Bindungsstörungen können Einfluss auf ihre psychische Gesundheit haben. 
Schützende Strategien sind oft wenig ausgebildet. Beispielsweise Selbsterfahrung oder Selbstreflexion – „wie geht es mir?“, was mache ich mit dem, was ich fühle?“ – sind für die Betroffenen meist keine entwickelten Konzepte und Prävention ist meist kein intrinsisch motiviertes, sondern ein Thema des Bezugssystems. 

 

Unser Angebot ist auf die akute psychiatrische Behandlung von diesem Personenkreis spezialisiert. Hier haben wir viel Erfahrung und dabei auch Methoden und Werkzeuge entwickelt, um ihnen zu helfen. Über die persönliche Therapeut-Patient-Beziehung hinaus, ist auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Abteilung und mit den anderen Abteilungen unserer Klinik essentiell. So können beispielsweise Verhaltensbeobachtungen in der Pflege oder in den Spezialtherapien zum Baustein für eine Diagnose und die weiterführende Behandlung werden. 

 

Wie steht es um die psychotherapeutische Versorgung in unserer Gesellschaft? 

Natürlich bemerken wir, dass sich in den letzten 10 Jahren Vieles getan hat, auch für Menschen mit Behinderungen. Nicht zuletzt, weil das Recht auf gesundheitliche Versorgung in der UN-Behindertenrechtskonvention gesetzlich verankert wurde. Darüber hinaus gibt es mittlerweile vielfältige Initiativen, sowohl von Betroffenen selbst als auch von entsprechenden Lobbyisten, die sich zusammentun, öffentlich auftreten, sich einbringen. Auch die sozialen Medien ermöglichen Teilhabe und bieten Chancen zur Vernetzung und Diskussion, in welcher Erfahrungen, Forderungen und Bedürfnisse geäußert werden. 

 

Nichtsdestotrotz ist die psychotherapeutische Versorgung bundesweit noch immer eher schlecht. Sollte eine Person akut in Not geraten, bekommt sie kurzfristig kaum einen Termin und muss sich auf lange Wartezeiten einstellen. Als Mensch mit Behinderungen sucht man mitunter vergeblich nach Therapeutinnen oder Therapeuten, die auch Plätze für sie anbieten. Unsere Klinik hat nicht den Auftrag, langfristige Psychotherapie anzubieten; hier ist die Behandlung krisenorientiert. Natürlich sind wir darum bemüht, dass eine gute Weiterführung der Behandlung - am besten wohnortnah, Stichwort: Barrierefreiheit - möglich ist. 

 

Wir engagieren uns deshalb dafür, niedergelassene Kolleginnen und Kollegen über unsere Erfahrungen zu informieren und sie entsprechend weiterzubilden. Aus diesem Grund hat ein Arbeitskreis der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg, in welchem ich mitarbeite, gerade erst eine Informationsbroschüre und ein Weiterbildungs-Seminar für niedergelassene Therapeutinnen und Therapeuten entwickelt, in welchem es speziell um „Psychotherapie für Menschen mit Behinderungen“ geht.

 

Hat sich das Verständnis für psychische Gesundheit in unserer Gesellschaft verändert?

Das Verständnis hat sich sehr verändert. Dass Körper und Geist eng zusammenhängen. Das schlägt sich in vielen Tendenzen nieder: Yoga, Work-Life-Balance, Veganismus – um nur ein paar Schlagworte zu nennen. Dass viele Menschen mittlerweile ihr Augenmerk darauf richten, körperlich wie psychisch gesund zu bleiben, empfinde ich als gute Veränderung. Auch, dass zum Beispiel die Praxis der „Achtsamkeit“ heute allgegenwärtig ist, ist positiv. Achtsamkeit trägt dazu bei, dass Menschen wacher dafür werden, wie sie sich und ihre Umgebung erleben und schärft den Blick für die Ressourcen und Möglichkeiten, schon im Alltag gezielt Regeneration zu praktizieren. 

 

Gleichsam erleben wir eine Entwicklung, der ich mit gemischten Gefühlen gegenüberstehe. In unserer Leistungsgesellschaft gibt es mittlerweile die Tendenz, psychische Probleme wie eine vorübergehende Infektion zu betrachten. Sie sollen dann rasch behandelt und beseitigt werden und dann soll es weiter gehen wir bisher. Das wird dem individuellen Problem der psychischen Erkrankung nicht gerecht. Als Gegenströmung bemerken wir, gerade bei jüngeren Generationen, ein höheres Schutz- und Abgrenzungsbedürfnis zum Beispiel zu beruflicher Belastung. Wenn Menschen zu sehr darauf fokussiert sind, sich zu schützen und der Belastung aus dem Weg gehen, fehlt dann aber die Erfahrung, was zu tun ist, wenn es doch zu Schwierigkeiten kommt. Nicht vor jeder Situation kann man sich schützen. Mitunter ist es wichtig, solche Phasen auszuhalten, daran zu wachsen und eine gewisse Resilienz zu entwickeln. 

 

Wann ist die psychische Gesundheit gefährdet? 

Hier gibt es für mich zwei Kriterien, die entscheidend sind: Zum einen, wenn die Person keine funktionalen Kompetenzen oder Kompensationsstrategien hat, um persönliche Probleme zu verarbeiten und zu lösen. Und zum anderen, wenn dann daraus persönliches Leid entsteht, das nicht genügend gut gelöst werden kann.

 

Wie können wir unsere psychische Gesundheit unterstützen?

Die Kompensationsstrategien beginnen bei den „Basics“. Diese sind ganz wichtig für die psychische Gesundheit: 

 

Bewegen Sie sich. Bewegung ist für den Körper, die somatische und die psychische Gesundheit essentiell. Gönnen Sie sich, den Wechsel zwischen körperlicher Anstrengung und Entspannung zu erleben. Achten Sie auf guten Schlaf. Achten Sie auf die ureigenen Rhythmen Ihres Körpers. Essen Sie gesund, bewusst und regelmäßig. Überprüfen Sie Ihre Informationshygiene: Wer sich dauernd den Informationen aus dem Internet und den sozialen Medien aussetzt, bringt sich in Dauerstress. Aber auch: Verbinden Sie sich mit Ihren Nächsten. Kommunizieren Sie. Keiner, schon gar nicht unter Belastung, ist in der Lage, alles zu überblicken und allein zu entscheiden, was in belastenden Situationen zu tun ist. Wir Menschen sind soziale Wesen. Gerade in schwierigen Lagen brauchen wir die Sicherheit, nicht allein zu sein und in einem sozialen Gefüge gehalten zu werden. Und natürlich: Seien Sie achtsam im Umgang mit sich selbst und Ihrem Umfeld. 

Stefan Meir ist Heilerziehungspfleger, Psychologe und psychologischer Psychotherapeut. Seit vielen Jahren arbeitet er in der psychiatrischen Institutsambulanz der St. Lukas-Klinik im Verbund der Stiftung Liebenau. Die Aufgaben sind vielfältig. In der Ambulanz berät und bietet er unter anderem Menschen mit Behinderungen und deren Angehörigen in akuten Krisen psychotherapeutische Hilfe an. Er ist aber auch Ansprechpartner für seine Kolleginnen und Kollegen, wenn es zu psychischen Belastungen im Arbeitsalltag kommt, zum Beispiel bei Gewalterfahrungen. Darüber hinaus setzen er und sein Team sich dafür ein, die psychotherapeutische Versorgung für Menschen mit Behinderungen zu verbessern. 

 

 

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