Arbeitstage voller Menschlichkeit
Mehr als ein Jahrhundert lang – von 1870 bis 1975 – haben bis zu 118 Barmherzige Schwestern des Klosters Reute den Hauptteil der Versorgung und Pflege der Bewohner übernommen. „Ohne Ordensschwestern wäre Liebenau niemals zu dem geworden, was es ist, und wäre heute zusammengebrochen. Darum sei ihnen heute ein herzliches Vergeltsgott gesagt.” Mit diesen Worten würdigte schon 1920 bei der 50-Jahr-Feier der damaligen Pfleg- und Bewahranstalt der Direktor Josef Wilhelm die Verdienste der Franziskanerinnen. Sie bemühten sich nach Kräften um die Pflege von Menschen mit Krankheiten und Behinderungen, waren für Küche und Haus zuständig, unterstützten den Direktor in der Verwaltung, kümmerten sich um die schulfähigen Kinder und zogen übers Land, um Spenden zu erbitten. Es war ein aufopferungsvoller Dienst der christlichen Nächstenliebe im Rahmen dessen, was zu jener Zeit möglich war. Drei Zahlen aus dem Jahr 1910 vermitteln eine Ahnung von den Arbeitsbedingungen der Schwestern: 41 Franziskanerinnen versorgten damals 513 Kinder und Erwachsene in Liebenau. Unterstützt wurden sie von drei weltlichen Kräften.
In die Aufgabe hineingewachsen
Eine fachliche Qualifizierung, wie wir sie heute kennen, war den Franziskanerinnen für ihre Aufgabe zunächst nicht zuteil geworden. „Die Schwestern aus Reute bringen barmherzige Zuwendung und religiösen Eifer mit. Aber sie kommen ohne Ausbildung und müssen darauf vertrauen, dass ihnen der Alltag wachsende Erfahrungen beschert”, schrieb der Journalist Michael Schnieber in seinem 1995 erschienenen Buch „In unserer Mitte – Der Mensch”. Dr. Bernhard Ehrmann, der von 1947 bis 1987 Leitender Arzt in Liebenau war, stellte rückblickend fest: „Die Schwestern erreichten durch jahrelange Erfahrung auch ohne spezielle Berufsausbildung im Sinne der Autodidaktik beachtliche pflegerische und erzieherische Leistungen.”
"Lehrgang für Irrenpflege"
Ab den 1920er Jahren wurde der Ruf nach Schwestern mit Qualifikationen im Pflege- und Handwerksbereich lauter. Zugleich reifte die Erkenntnis, dass sie auch pädagogisch und psychologisch geschult werden sollten. Schließlich erhielten vereinzelt Schwestern Ausbildungen für ihre jeweiligen Aufgabenbereiche. So nehmen beispielsweise drei Schwestern aus Liebenau an einem „Lehrgang für Irrenpflege” im Landeskrankenhaus Weißenau teil und legen 1929 ein Fach-Examen ab. Das generelle Ausbildungsdefizit blieb allerdings noch lange Zeit bestehen. „Wir haben halt mit der Gnade Gottes geschafft”, sagte eine Schwester viele Jahre später dem Journalisten Schnieber. 118 Franziskanerinnen arbeiteten im Jahr 1952 in den Einrichtungen der Stiftung Liebenau, zusammen mit 81 weltlichen Kräften. Dies war der Höchststand. Überalterung und Nachwuchsmangel führten in den folgenden Jahren dazu, dass das Kloster Reute immer weniger Ordensschwestern in die Einrichtungen entsenden konnte. Mitte der 1970er Jahre endet ihre Ära in Hegenberg, Liebenau und Rosenharz.
Professionalisierung der sozialen Berufe
In jenen Jahren begann eine grundlegende Änderung der Pflege- und Förderkonzepte. Monsignore Dr. h.c. Norbert Huber, der die Stiftung Liebenau von 1968 zunächst als Direktor und später als Vorstand bis 1996 leitete, trieb diesen Wandel voran. „Er wurde maßgeblich gestaltendes Mitglied einer Bewegung, die den geistig behinderten Menschen und sein Recht auf Selbstbestimmung in den Mittelpunkt stellte und die Hilfen für sie neu ausrichtete, ihr ein neues, tragfähiges und respektvolles Fundament ermöglichte”, schrieb Heike Schiller in dem Buch „Zugewandt” (erschienen 2016). Dazu veränderte Huber nicht nur die räumlichen und strukturellen Bedingungen, sondern trug auch wesentlich zu einer Professionalisierung der sozialen Berufe bei. So fanden schon 1969, also bereits ein Jahr nach seinem Amtsantritt, in der Stiftung Liebenau erste Ausbildungseinheiten für Heilerziehungshelferinnen und -helfer statt.
Die Stiftung Liebenau war auch maßgeblich an der Gründung des Sozialpädagogischen Instituts in Ravensburg beteiligt, das 1972 den Unterrichtsbetrieb auf Plätze an mehreren Fachschulen anbietet. Viel wurde in jenen Jahren unternommen, um den Personalbestand aufzustocken und qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen. Dazu gehörten unter anderem verbesserte Arbeitsbedingungen in kleineren und besser ausgestatteten Wohngruppen, leistungsgerechte Bezahlung, diverse Sozialleistungen und auch die schon Ende der 1960er Jahre in Hegenberg geschaffene Mitarbeiter-Siedlung und ein Personalwohnheim.
Die Grundlage: „In unserer Mitte – Der Mensch”
Seither hat sich vieles weiterentwickelt. Die Angebote für Menschen mit Behinderungen wurden weiter ausdifferenziert, damit einhergehend auch die Fachlichkeit und Qualifizierung der Mitarbeitenden. „Heute streben wir nach Inklusion, nach Dezentralisierung sozialer Hilfen, verstehen uns als Begleiter in bestimmten Lebensphasen, in denen wir passgenaue Hilfe leisten, ambulant, stationär oder teilstationär”, heißt es im Vorwort des Vorstands zum Buch „Zugewandt”. Die Grundlage dafür bildet die Haltung, die in dem Leitwort „In unserer Mitte – Der Mensch” zum Ausdruck kommt. Es schließt ausdrücklich die rund 7600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an 112 Standorten ein. Dank ihrer Größe und ihrem breiten Angebot eröffnet ihnen die Stiftung Liebenau vielfältige Möglichkeiten für die persönliche und fachliche Entwicklung. Dafür sorgt auch die 1980 gegründete Akademie Schloss Liebenau mit ihren vielfältigen Fort- und Weiterbildungsangeboten für interne und externe Fachkräfte. Zu einer attraktiven Arbeitswelt tragen viele Zusatzleistungen und Vergünstigungen, Angebote zur Gesundheitsförderung und zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, ein wertschätzendes Arbeitsklima und eine Kultur des Miteinanders bei.
Was für die Mitarbeitenden der Stiftung Liebenau am meisten zählt, sind die Menschen und die Menschlichkeit. Ihretwegen sind die Arbeitstage mit Sinn gefüllt, lohnt sich manche Mühe und gibt es wertvolle Erfahrungen. „Was mich antreibt, sind die Menschen”, sagte einer der heutigen Mitarbeiter ganz in diesem Sinne in einem Interview. An den allermeisten Tagen habe er die Gewissheit: „Es hat einen Wert, dass ich da war.”