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Meine Geschichte - mein Ritual

Laufend in den Tag

Der eine braucht morgens seine Tasse Kaffee, um in den Tag zu kommen. Der andere legt bereits am Abend seine Kleidung für den nächsten Tag zurecht und wieder ein anderer geht ohne eine geputzte Brille nicht aus dem Haus. Kleine Rituale im Alltag. Jeder hat sie, auch wenn er sie nicht so nennt. Rituale geben dem Alltag Struktur, schaffen einen Übergang zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Tag und Nacht und zwischen verschiedenen Tätigkeiten.

 

Laufen, laufen, laufen 

Es ist 8 Uhr, in 8 Minuten ist Sonnenaufgang, zumindest meteorologisch. Doch von Sonne keine Spur. Es ist wenige Tage nach Neujahr: Schwere Schneeflocken fallen auf den Asphalt. Sie mischen sich mit dem Schneematsch der vergangenen Tage. Es ist noch zu warm, richtiges Schmuddelwetter. Werner Gaile, Heilerziehungshelfer im Förderbereich der Liebenauer Arbeitswelten in Liebenau, steht mit Mütze und dicker Jacke im Eingangsbereich des Förderbereichs.

 

Sein Ritual beginnt. R. steigt aus dem Kleinbus der Malteser aus, läuft auf Gaile zu, begrüßt ihn und läuft voraus in Richtung des 50 Meter entfernten Hauses St. Josef. Gaile geht hinterher. Sie haben ein gemeinsames Ziel: Sie holen E. und B. zum gemeinsamen Morgenspaziergang ab. Zu viert geht es weiter zum Haus St. Pirmin, wo C. auch schon mit einem kleinen Rucksack startklar ist. Mit einem Schlenker über den Liebenauer Friedhof beginnt die Runde, dann geht es Richtung Liebenauer Landleben, wo bereits die Vorbereitungen für die Ladenöffnung laufen. Zwischen den Gewächshäusern im Winterschlaf geht es weiter, dann laufen sie an der Max-Gutknecht-Straße wieder zurück.

Plaudern und schweigen

Die Charaktere sind bunt gemischt: Einer weicht Werner Gaile nicht von der Seite und plaudert drauf los, ein anderer läuft immer schon ein Stück voraus und kommt dann wieder zurück zur Gruppe. Zwei fassen sich bei den Händen, geben sich möglicherweise Halt oder sind es so gewohnt. Sie sprechen nicht darüber oder können es nicht. Es sind Menschen, die zum Teil autistische Züge haben. Alle sind recht gut zu Fuß und bewegen sich trotz der Schneereste langsam aber sicher auf ihr Ziel zu, dem Förderbereich. Dort arbeiten sie alle, in größtenteils verschiedenen Gruppen. Ein Abstecher noch durch den Empfang der Stiftung Liebenau, wo die Gruppe das Postfach des Förderbereiches checkt. Heute keine Post.

 

Ruhiger in den Tag kommen

„Wir laufen jeden Morgen, bei jedem Wetter, das ganze Jahr hindurch, immer von montags bis freitags“, sagt Werner Gaile – und das seit zehn Jahren. „Wir haben festgestellt, dass die Bewegung an der frischen Luft allen sehr gut tut. Die Leute kommen ruhiger an ihren Arbeitsplatz, sind ausgeglichener und das soziale Miteinander in den Fördergruppen ist entspannter.“ Das Angebot ist freiwillig, aber es gibt einen festen Stamm, der sich gemeinsam für die Dreiviertelstunde auf den Weg macht. „Auch mir selbst geht es so, dass es mich besser ankommen lässt. Mir würde etwas am Tag fehlen, wenn ich nicht diesen Start hätte“, weiß Gaile. Schließlich war es auch seine Idee, die „Laufgruppe“ wie er sie nennt, ins Leben zu rufen. „Privat laufe ich auch, allerdings in meinem Tempo“, sagt er schmunzelnd.

 

Belohnung muss sein

Und ausnahmsweise schon heute, einem Dienstag, ein weiterer Abstecher, diesmal in die Cafeteria. Zur „Belohnung“ gibt es dort Schokoriegel. Normalerweise allerdings erst am Freitag, wenn die Woche rum ist und alle Wind und Wetter getrotzt haben.

 

*Name geändert

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Anstifter 1/2019

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