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"Wir sind ein offenes Haus"

ULM - 1998 erfolgte der Startschuss für das Regionale Ausbildungszentrum (RAZ) Ulm. Seit 1999 leitet Birgit Simon die Einrichtung und ist dort deshalb (fast) die Frau der ersten Stunde. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums blickt sie im Interview auf diese Zeit zurück - und auch nach vorne.

RAZ-Ulm-Einrichtungsleiterin Birgit Simon

„Die Ulmer kennen uns und schätzen unsere Arbeit“: Einrichtungsleiterin Birgit Simon feiert mit dem Regionalen Ausbildungszentrum (RAZ) Ulm Jubiläum.

Das "Haus für Bildung, Rehabilitation und Teilhabe" in der Schillerstraße 15: seit 2010 Heimat von RAZ Ulm und Max-Gutknecht-Schule.

Praxisnahe Ausbildung

Ob in der hauseigenen Backstube in der "Schillerstraße 15" oder in Partnerbetrieben aus der Region: Die jungen Frauen und Männer des RAZ Ulm werden von Anfang an praxisnah ausgebildet.

Max-Gutknecht-Schule Ulm

Kurze Wege, enger Austausch, ideal für die Azubis: Die Max-Gutknecht-Schule befindet sich mit dem RAZ Ulm unter einem Dach.

Frau Simon, herzlichen Glückwunsch zu 20 Jahren RAZ Ulm!
Danke schön.

Was steckt hinter dem Modell RAZ, und an wen richtet es sich?
Das Konzept des Regionalen Ausbildungszentrums steht für eine betriebs- und wohnortnahe berufliche Reha. Junge Menschen mit besonderem Teilhabebedarf, die zwar in der Lage sind, in einem Betrieb zu arbeiten, aber eine gewisse Unterstützung und Begleitung brauchen, sind bei uns richtig. Im Gegensatz zum Berufsbildungswerk bieten wir aber keine Internatsplätze an. Unsere Jugendlichen wohnen also zuhause. Beim Förderbedarf unterscheiden sie sich aber sonst mittlerweile kaum von den BBW-Teilnehmern. Und betriebsnah heißt: Wir schicken unsere Auszubildenden schon ab dem ersten Lehrjahr raus in die reale Arbeitswelt.

In externe Betriebe also?
Ja. Parallel dazu haben wir aber auch schon immer dafür gesorgt, Betriebsnähe auch bei uns im Haus selbst abzubilden.

Inwiefern?
Indem wir zum Beispiel eigene Verkaufsläden und Gastronomie betreiben. Die in unserer Backstube hergestellten Waren werden schon seit den Anfängen des RAZ auch im Haus verkauft. Dann haben wir auf Wunsch der Agentur für Arbeit unsere Berufspalette vor einigen Jahren um den Bereich Metzgereiverkauf erweitert – und dann auch hier eine entsprechende Verkaufstheke eingerichtet. Dazu kommt noch unser gastronomisches Angebot: die eigene Küche, das eigene Restaurant und unser Catering. Die Azubis erfahren also auch hier im Haus, auf was es im Berufsalltag ankommt. Und sie kommen in Kontakt mit „echten“ Kunden und Gästen…

…die zu Ihnen tatsächlich von außerhalb kommen?
Ja klar, wir sind ja ein offenes, inklusives Haus und mittendrin in der Stadt. Wir haben eine große Stamm- und auch Laufkundschaft. Menschen von außerhalb gehen hier werktäglich ein und aus. Ulmer Bürger kaufen bei uns ihre Backwaren und Wurst, Mitarbeiter benachbarter Firmen, Baustellen oder Behörden essen hier zu Mittag oder kommen auf einen Kaffee vorbei. Und unsere Azubis werden bei Veranstaltungen für das Catering gebucht. Die Ulmer kennen uns, schätzen unsere Arbeit – und lassen sich unsere hausgemachten Produkte schmecken. Dabei ist ihnen klar, dass es sich im RAZ um einen Ausbildungsbetrieb handelt. Sie haben Verständnis, wenn unsere Azubis mal nicht so schnell sind, sie etwas länger beim Rechnen brauchen oder vielleicht nicht alles hundertprozentig perfekt ist. Das nehmen die Kunden gerne in Kauf. Und unsere Azubis profitieren von den Praxiserfahrungen immens.

Daneben sind Sie aber natürlich auch auf die Zusammenarbeit mit externen Betrieben angewiesen. Wie klappt das in Ulm und Umgebung?
Mittlerweile können wir auf einen ganzen Pool an Partnerunternehmen zurückgreifen und werden von diesen auch weiterempfohlen. Zum Teil kommen die Betriebe aktiv auf uns zu und fragen nach, ob wir nicht jemanden für sie hätten – gerade in der Gastronomie, wo der Fachkräftemangel groß ist. Unsere Azubis werden dann übrigens auch gerne nach der Ausbildung übernommen, weil sie als RAZ-Absolventen einfach gut ausgebildet sind. Auch sonst sind wir hier in der regionalen Wirtschaft stark vernetzt. So pflegen wir einen guten Kontakt zu den Innungen, und unsere Ausbilder sitzen in den Prüfungsausschüssen der Kammern. 

Wie sind Sie darüber hinaus in Ulm verankert?
Wir als RAZ bringen uns hier im Viertel und in der ganzen Stadt auf vielschichtige Weise aktiv ein. Wir kooperieren mit dem Weststadthaus und der AG West, in der wir auch Mitglied sind. Es gibt eine Partnerschaft mit dem Mädchen- und Frauenladen „Sie‘ste“, wir sind Mitglied im Seniorenverein „JAZz“, der mit unseren Jugendlichen regelmäßig ein Bewerbertraining macht. Auch mit der „Popbastion“ machen wir Projekte. Wir sind vernetzt mit der örtlichen Schulsozialarbeit, und seit einiger Zeit sind wir mit unserem Produktangebot auch bei der Aktion „FairTrade-Stadt Ulm“ dabei.

Sie tragen das Wort „Region“ im Namen. Wie groß ist die eigentlich?
Unser Einzugsgebiet rund um Stadt und Region Ulm ist relativ groß. Wir haben Azubis und Partnerbetriebe von Langenau bis Biberach und von Göppingen bis ins Bayerische. Dabei sind wir nicht zuletzt wegen unseres Angebots an bestimmten Berufen, die nicht überall angeboten werden, attraktiv. Und viele Jugendliche, die hier im Haus etwa ein Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf (VAB) machen, bleiben dann auch für weiterführende Maßnahmen bei uns.

Stichwort VAB: Dabei handelt es sich ja um ein Angebot der Max-Gutknecht-Schule, die wie das RAZ ebenfalls in der „Schillerstraße 15“ beheimatet ist und ebenfalls zum Berufsbildungswerk der Stiftung Liebenau gehört. Welche Rolle spielt die Nähe zu dieser Sonderberufsschule?
Diese unmittelbare Nähe ist natürlich schon ein Pfund und ein großer Vorteil für uns und die Jugendlichen. Beide Einrichtungen und ihr Personal stehen untereinander in engem Austausch, die Wege zu den regelmäßigen gemeinsamen Förderplangesprächen sind kurz. Unsere Ausbilder sind zum Beispiel auch als technische Lehrkräfte in der Schule aktiv, die Psychologin der Schule ist auch die Psychologin des RAZ. Und die Max-Gutknecht-Schule mit ihren kleinen Klassen und ihren spezialisierten Lehrkräften ist einfach ideal für unsere Jugendlichen, die ja zum Teil Schulängste haben.

Schulangst ist aber sicher nur eines von vielen Problemen, mit denen die Jugendlichen zu Ihnen kommen. Wie hat sich die Klientel des RAZ in den vergangenen zwei Jahrzehnten verändert?
Die klassische Lernbehinderung ist nur noch ein Aspekt. Es kamen im Laufe der Jahre immer mehr junge Menschen mit psychischen Störungen und Beeinträchtigungen zu uns, zum Beispiel mit ADHS, Borderline oder Autismus. Dadurch sind die Herausforderungen an alle Beteiligten natürlich stark gestiegen.

Wie meistern Sie diese Herausforderungen?
Wir haben wie schon erwähnt eine Psychologin sowie auch eine Ergotherapeutin im Haus und kooperieren zusätzlich mit einer externen psychologischen Praxis. Und unsere Ausbilder und Bildungsbegleiter sind inzwischen auch Experten im Umgang mit diesen Menschen.

Und dann gelingt auch für Jugendliche mit psychischen Störungen die Ausbildung?
In den meisten Fällen ja, aber nicht immer. Wenn die Beeinträchtigungen einfach zu groß sind, funktioniert es manchmal eben nicht. Diese Möglichkeit ist auch dem Kostenträger, der Agentur für Arbeit, bei solchen besonderen Fällen bewusst. Scheitern kann aber auch eine Chance sein. Weil man dadurch vielleicht erkennt, dass ein anderer Weg für den Betroffenen der richtige ist. Das kann zum Beispiel im Berufsbildungswerk sein mit seinem integrierten Wohnangebot. Dennoch kann sich insgesamt unsere Abbrecherquote im Vergleich zur Ausbildungssituation auf dem freien Ausbildungsmarkt absolut sehen lassen – gerade auch im Bereich Gastronomie und Küche.

Ihre persönlichen Highlights aus 20 Jahren RAZ Ulm?
Für mich ist unsere jährliche Absolventenfeier immer wieder ein Highlight – weil man dort sieht, wie sich junge Leute in drei, vier Jahren weiterentwickeln können. Sie kommen oft verunsichert, mit vielen negativen Erfahrungen im Gepäck zu uns. Und dann werden sie hier als gut ausgebildete Fachkräfte verabschiedet – oft sogar schon mit einem festen Arbeitsvertrag in der Tasche. Und dann ist es auch schön zu sehen, wie sie danach privat und beruflich ihren Weg im Leben machen. Als weitere Höhepunkte sind sicher die verschiedenen Aktionen hier in der Stadt zu nennen…

Welche?
Die Teilnahme unserer Jugendlichen beim Einsteinmarathon zum Beispiel. Oder unsere Beteiligung an der Ulmer Rekordaktion des längsten Leberkäses der Welt. Auch beim Brotkulturfest sind wir schon immer mit dabei. Und ein Meilensteil war natürlich im Jahre 2010 der Umzug in unser „Haus für Bildung, Rehabilitation und Teilhabe“ in der Schillerstraße 15. Dort haben wir mehr Platz für unsere Angebote und sind zudem auch mit anderen Einrichtungen unter einem gemeinsamen Dach, zum Beispiel mit den ambulanten Diensten der Liebenau Teilhabe. Und im neuen „Haus der Vielfalt“ der Stiftung Liebenau, das gleich nebenan entsteht, bekommen wir ja weitere dringend benötigte Räume für die Ausbildung hinzu.

Was bringen die nächsten 20 Jahre?
Die kommenden Jahre stehen allgemein sicher im Zeichen der Digitalisierung, der „Industrie 4.0“ und des damit verbundenen Wandels in Gesellschaft und Arbeitswelt. Auch wir als Bildungsträger werden uns im Zuge dieser Entwicklungen neu positionieren müssen und dies auch tun. E-Learning, Online-Plattformen, Blogs werden als Lerninstrumente deutlich an Bedeutung gewinnen. Einrichtungen wie das RAZ Ulm werden in Zukunft stärker bei der Unterstützung von und in Betrieben der freien Wirtschaft gefragt sein. Schließlich gilt es, sich dem Thema Inklusion zu stellen. Es wird sicher noch komplexer und herausfordernder, für jeden Menschen mit Unterstützungsbedarf die für ihn passende Betreuung am Arbeitsplatz zu gewährleisten. Was neben allen fachlichen Fähigkeiten immer wichtiger sein wird, sind die sozialen Kompetenzen. Und die stehen bei uns in allen Maßnahmen und für alle Jugendlichen auf dem Ausbildungsplan. Darüber hinaus  haben wir die Aufgabe, auch weiterhin eine Lobby für jene Menschen mit besonderem Teilhabebedarf zu sein, die sich nicht so gut zu Wort melden können, die wir aber als Gesellschaft auf keinen Fall vergessen dürfen.

 

 

Inklusion ist bunt, vielfältig – und niemals langweilig. Wie lebendig Inklusion in der Stiftung Liebenau umgesetzt wird, lesen Sie in unserem Newsletter „Liebenau inklusiv“ > 

 


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