Er kennt die deutsche Sprache sehr gut
„Ich habe alles im Kopf, aber die Wörter stecken im Hals fest“, entschuldigt sich der 36-Jährige zu Beginn. Jörg Pohle beherrscht die deutsche Sprache sehr gut. Aber er kann sie kaum sprechen. Um sich mitzuteilen, nutzt er Medien wie den Computer oder ein Schreibbrett aus Holz, das ähnlich wie
eine Tastatur mit allen Buchstaben und wichtigen Zeichen aufgebaut ist. Nutzt er dieses Brett, kreist seine rechte Hand – geführt von Evi Müllerschön – wie unabhängig vom restlichen Körper. Sein Zeigefinger tippt zielsicher Buchstaben, die verblüffende Worte und Sätze ergeben. Dabei schweift sein Blick unruhig umher, seinem Mund entrinnen einzelne Worte und Laute. Trifft er auf fremde Menschen, hat er Angst davor, ausgelacht zu werden. Das liest Evi Müllerschön vor, während er schreibt.
Viele Gedanken und Reize
Und noch mehr: „Wenn ich etwas sagen will, dann hilft mir Evi zu reden. Sie hält mich in unterschiedlicher Weise: mal fest, mal gar nicht und oft zu wenig, weil sie denkt, ich bin sicher.“ Diese sogenannte Facility Communication (FC) ist Teil der Unterstützten Kommunikation. Im Kopf von Jörg Pohle kommen viele Gedanken und Reize auf einmal an. Er kann sie kaum kanalisieren. Schaut er ein Bild an, sieht er auf Anhieb die einzelnen Bestandteile. Den gesamten Zusammenhang erfasst er nicht. Um die Wahrnehmungen zu fokussieren, benötigen Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen Hilfe.
Worte gegen den Strom der Gedanken
Evi Müllerschön erklärt, dass sie Jörg Pohle Sicherheit gibt, weil er die Grenzen und den Widerstand beim Halten spürt, wenn er schreibt. Die beiden kennen sich seit elf Jahren. Viele Jahre haben sie miteinander gearbeitet, bis es Jörg Pohle möglich war, einen freien Text zu schreiben. Er schreibt: „Evi hat nie aufgehört, bestimmt vier Jahre. Genau das ist, was ich gebraucht habe. Von jemandem ernst genommen zu werden. Wir gehen jeden Tag schreiben. Versuche die Worte zu finden: gegen den Strom meiner Gedanken, gegen all die Gefühle, gegen all die Erwartungen, gegen all die Ideen, die für mich gemacht wurden. Hören, Denken, Fühlen ist mein Leben.“
Überschaubarkeit hilft
Es gibt vereinzelt noch Situationen, in denen Jörg Pohle der Umweltreize nicht Herr wird. Dann kommt es vor, dass er sich selbst wehtut, manchmal auch anderen. Doch meistens schafft er es, sich rechtzeitig zurückzuziehen, sich im wahrsten Sinne des Wortes zu entziehen. Dann geht er zum Beispiel in die Toilette. Die Überschaubarkeit des Raums hilft ihm. Auch ein starker Geruch – etwa von Desinfektionsmittel an seinen Händen – kann ihn dann beruhigen. In der Förderwerkstatt der Stiftung Liebenau in Rosenharz verteilt er Post und Pakete und betätigt den Aktenvernichter. Seine Lieblingsbeschäftigung ist das Etikettieren von Grußkarten, die in der Werkstatt hergestellt werden. Seine Aufgaben werden jeweils am Morgen mit ihm besprochen. Diese Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit geben ihm Vertrauen. Vertrauen – dazu gehört für ihn auch die Leberkässemmel, die es dienstags gibt. Immer.
Jörg Pohle kann viel erzählen. Und er reflektiert: „Menschen, die mich nicht kennen, sind oft überrascht von meinen Fähigkeiten.“ Seine Wahrnehmung täuscht ihn nicht.
Von einem, der die Worte fühlt
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