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Samstagsmorgenroutine

von Prälat Michael H. F. Brock – Immer samstags steht er an der Straßenecke vor dem Lebensmittelgeschäft. Ich weiß nicht, wie er heißt, aber wir kennen uns schon ein wenig, weil wir uns oft begegnen – samstags an der Ecke vor dem Lebensmittelgeschäft. Er steht dort, lehnt sich mit dem Rücken an eine Straßenlaterne, neben ihm sein vollgepacktes Fahrrad.

 

Aufgeladen hat er alles, was er braucht, um in den immer kälter werdenden Nächten nicht zu erfrieren. Kartons, Decken, Tüten, Stiefel, Jacken, eine große Plastikfolie – buntgemischte, lebensnotwendige Dinge, die er im Laufe der Zeit gefunden oder geschenkt bekommen hat. So hat er es mir jedenfalls erzählt an einem Samstagmorgen, an dem ich ihn wieder einmal gefragt hatte, ob ich ihm etwas zum Frühstücken mitbringen kann. Manchmal mag er etwas Herzhaftes, manchmal lieber etwas Süßes, aber einen großen Becher mit Kaffee mag er immer. Mit Milch und ganz viel Zucker. Beim Frühstücken erzählt er manchmal von früher. Dann entdecke ich in seiner aufrechten Haltung eine gewisse Eleganz. Sein Gesicht, das heute eher fahl aussieht, war bestimmt einmal gut durchblutet und im Sommer braun gebrannt. In seine Augen kommt beim Erzählen ein bisschen Strahlen durch die Müdigkeit hindurch, die in seinem Blick zu lesen ist.

 

Wie mag sein „altes“ Leben wohl gewesen sein? Vielleicht hat er in einem schönen Haus gewohnt, ein gutes Einkommen gehabt, und vielleicht ist er ja am Samstagmorgen zum Bäcker gefahren und hat Frühstück geholt für sich, für seine Familie? Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, was ihn auf die Straße geführt hat, und wir reden auch nie darüber. Es werden keine Fragen gestellt, nicht nach dem Gestern, nicht nach dem Heute, nicht nach dem Morgen. Manchmal fragt er, ob das Wetter nächste Woche wohl trocken bleibt. Mehr nicht.

 

Und doch findet sie statt, jeden Samstag, mitten in jener Samstagsmorgen-Routine – eine Begegnung.

 

 

Autor und Sprecher: Prälat Michael H. F. Brock
Quelle: zeittöne Winter 2021