Seitlich streichen für weitere Aufgabenfelder <>

Wir sind … noch nicht am Ende!

von Prälat Michael H. F. Brock – Ich habe mich wochenlang, nein monatelang geweigert, diesen Impuls zu schreiben. Ich hatte immer gehofft, der Krieg in der Ukraine wäre beendet, bevor ich mich mit diesen Gedanken befassen sollte. Aber nichts ist beendet. Leid und Schreie des Krieges – oder sollte ich besser schreiben: der Kriege – dringen unaufhaltsam an mein Ohr und lassen mein Herz erstarren. Angst trifft Empörung. Verzweiflung auf ein Gefühl gelähmt zu sein.

 

Ich fühle mich der Zeit, die wir erleben, ausgeliefert. Corona ist noch nicht überwunden und in Europa herrscht Krieg. Aber machen wir uns nichts vor. Auf der ganzen Welt herrschen und toben die Kriege wie eh und je. Ich glaubte uns im Frieden. Aber das war immer ein Irrtum. Nur weil die Kriege weit weg waren, haben sie doch immer schon existiert. Mir geht es nicht besser, wenn ich die Kriegstreiber benennen kann. Und es ist mir kein Trost, dass die Absetzung eines Autokraten zumindest diesen Krieg wohl beenden könnte. Ich muss einsehen, dass ich mich dem Gedanken stellen muss, dass wir als Menschheit noch nicht gelernt haben ohne Kriege auszukommen. Augenscheinlich gibt es Gründe, das Leid und das Elend von Menschen, das Sterben und die Vergewaltigung von Frauen und Männern, die Schreie der Kinder in den Bunkern der Zerstörung hinzunehmen für das, was die Mächtigen dann am Ende immer „höhere Ziele“ nennen.

 

Menschen waren es immer und werden es auf absehbare Zeit immer sein: Kanonenfutter für Interessen, mit kleinen friedlichen Zeitzonen dazwischen. Das nennen wir dann Glück. Oder wohl besser: Glück gehabt! Wenigstens für siebenundsiebzig Jahre, in Deutschland. Ich hatte immer geglaubt, der nächsten Generation eine andere, eine verständigere, friedvollere Welt, zu hinterlassen. Ich habe auch an das Märchen vom Wandel durch Handel geglaubt. Ich war der festen Überzeugung, dass eine vernetzte Welt mit Menschen, die befreundet sind über die Grenzen hinweg, die einander achten und schätzen – unabhängig von Glaube und Kultur –, am Ende dafür sorgen werden, dass die Kriege überflüssig werden, weil wir uns als Menschheit begreifen. Aber augenscheinlich sind wir noch nicht so weit. Offensichtlich gibt es die Menschheit als Einheit in Vielfalt noch nicht. Diese Menschheit ist ein Traum. Eine gefährliche Einsicht. Sollten wir uns daran gewöhnen?

 

Wenn wir davor stehen bleiben, dass es uns Menschen als Solidargemeinschaft, als Menschheit, nicht gibt und auch nicht geben wird, dann spielt dieser eine Krieg mehr auf unserem Planeten am Ende auch keine entscheidende Rolle mehr. Dann wird das menschengemachte Klima uns alle hinwegraffen, früher oder später. Oder wir erleben Krieg auf Krieg. Am Ende aber wäre dann jegliches Engagement – auch das unserer Stiftung – sinnlos. Warum sollten wir uns um Alte und Kranke kümmern, wenn sie doch früher oder später von irgendeinem Krieg dahingerafft werden? Warum sollten wir Menschen mit Behinderung ins Leben hinein begleiten, wenn das Leben am Ende nur Elend hieße und Zerstörung? Alles würde keinen Sinn ergeben.

 

Aber genau das Gegenteil erlebe ich jeden Tag. Jeden Tag weiß ich von Menschen in unseren Einrichtungen und Angeboten, die sich auf den Weg machen, andere Menschen zu begleiten. Ich erlebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die oft ihre letzte Kraft geben, trotz Krieg und Corona, alles zu tun, was ihnen möglich ist, dass es anderen Menschen gut geht. Ich erlebe Hingabe und Fürsorge. Ich erlebe, wie Trauernden Trost gespendet wird. Menschen werden gewaschen und versorgt. Flüchtlingen wird Raum zum Leben gegeben und unermüdlich versuchen wir jungen Menschen ein Leben in Selbstbestimmtheit zu ermöglichen. Ich sehe wie sich Menschen umarmen und Halt geben. Ich sehe wie sie einander die Hand reichen und die Tränen von den Wangen wischen. Diese Bilder sind nicht naiv oder romantisch. Vor allem sind sie kein Traum.

 

Wir setzen der Wirklichkeit von Krieg und Ohnmacht, die Kraft der Versöhnung und Fürsorge entgegen. Wir setzen einer gespaltenen Welt in Krieg und Zerstörung ein Versprechen entgegen: Bei uns geht es allein um den Menschen. Ich frage nicht, ob Menschen aus Russland kommen oder aus der Ukraine, aus Afrika oder aus Indien. Ich frage Menschen, ob sie sich um Menschen kümmern mögen. Und ich frage, ob sie das Herz auf dem rechten Fleck haben. Sollte das schon genügen, um diese Welt zu befrieden? Ich weiß, dass es das Einzige ist, was wir der Ohnmacht entgegenhalten können. Es ist unsere Haltung zum Menschen, die wir aufbringen, von Herzen und den Menschen zugewandt. Das ist unser Beitrag zum Frieden. Ich danke jedem Einzelnen und jeder Einzelnen unter uns, die sich sorgen um Menschen. Die Putins werden einst verstummen. Irgendwann einmal, wenn wir es alle begriffen haben. Wir Menschen werden leben, wenn wir uns als Menschheit begreifen.

 

Autor und Sprecher: Prälat Michael H. F. Brock
Quelle:Jahresbericht 2021 (erschienen 2022)