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Vom Auftanken und Kraft schöpfen

von Prälat Michael H. F. Brock – Woher nehmen wir die Kraft in Zeiten immer neuer Herausforderungen und anhaltender Belastungen durch Pandemie, Krieg, Energieknappheit und Inflation? Ich kenne Menschen, die beinahe durchdrehen, andere verfallen in Depressionen und immer wieder fragen Menschen, wie man in solchen Zeiten die Ruhe behält, den Überblick und vor allem, wie man die Hoffnung nicht verliert.

 

Ich habe keine allgemeingültigen Antworten, aber eine kleine Beobachtung aus meinem Alltag hilft mir: Ich habe seit einem Jahr ein Elektroauto und musste damit umgehen lernen, dass die Reichweite meines neuen Wagens auf circa 360 Kilometer bei 90 Prozent Ladung der Batterie begrenzt ist. Das machte mich bereits bei der ersten Fahrt nervös. Wie weit werde ich mit der Energie wirklich kommen? Finde ich rechtzeitig eine Ladestation? Habe ich genügend Zeit zum Aufladen, wenn ich dann neue Energie brauche? Anfangs stellte ich den Wagen auch mal mit 30 Prozent Energieladung in die Garage und wachte nachts auf, schaute nochmals in den Kalender mit der bangen Frage, ob die Energie wohl für den nächsten Tag reichen würde.


Mit der Zeit fiel mir auf, dass Menschen mit ihrer Frage nach ausreichend Energie für den Tag vor genau denselben Fragen stehen, jeden Tag. Ist meine Lebensenergie, an Tatkraft, Lebensfreude, Hoffnung und Belastbarkeit morgens bei 90 Prozent oder starte ich den Tag bei 30 Prozent? Habe ich Augenblicke und Begegnungen, die mir Energie schenken oder brenne ich aus? Und wie kann ich eine gesunde Balance finden: Zeiten, in denen ich voller Energie umtriebig und agil sein kann und Zeiten, in denen ich zur Ruhe kommen kann, gelassener werde und auch Kraft schöpfen kann durch Menschen, die mir guttun.

 

Ich habe bemerkt, dass es ganz verschiedene „Ladetypen“ gibt, zumindest beim Batterie aufladen. Bei meinem Auto ist es ungefähr so: Das Aufladen der Batterie von ungefähr 40 Prozent auf 80 Prozent dauert etwa zwanzig Minuten. Von 80 auf 90 Prozent nochmals zwanzig Minuten und von 90 auf 100 Prozent etwa nochmals eine Stunde. Eine Weile hat es mich geärgert, dass ausgerechnet das Laden von 90 auf 100 Prozent so unangenehm lange dauert. Bis mir die Erkenntnis kam, dass ich in meinem Leben auch nur selten mit 100 Prozent Energie arbeite und lebe. Da bin ich häufig schon mit 80 Prozent durchaus zufrieden.

 

Da ich – wie im wirklichen Leben – bei einem Ladezustand unter 40 Prozent schon ziemlich nervös werde, habe ich mir folgende Ladestrategie zurechtgelegt: Ich lade so gut es geht meine Batterie im Wagen meist bis circa 40 Prozent auf, und in der Regel genügen mir die ersten 20 Minuten bis zum Ladezustand von 80 Prozent. Diese Zeit finde ich in der Regel auch. Das macht dann bei einer Fahrt von über 600 Kilometern ungefähr zwei bis drei kleine Pausen, die mir ohnehin guttun, anstatt bis unter 10 Prozent zu fallen und mich dann anhaltend über die Stunden zu ärgern, die ich dadurch „verliere“, um wieder auf 100 Prozent zu kommen.

 

Ich muss ein wenig schmunzeln. Ich kenne solche Menschen auch in meinem Leben. Menschen, die ihren Energiehaushalt an Lebensenergie ständig in der Spannung zwischen null und hundert fahren. Solche Menschen empfinde ich meist als überdreht oder extrem ausgelaugt. Ich finde das anstrengend. Ich fühle mich wohl mit meiner 40/80 Strategie: nie ganz leer, nie ganz voll. Anders als die Batterie kann ich meist selbst entscheiden, wann und wie ich mehr Energie gewinne. Ich achte darauf, dass ich jeden Tag auftanken und Kraft schöpfen kann, durch Augenblicke und Menschen, die mir guttun.

 

Autor und Sprecher: Prälat Michael H. F. Brock
Quelle:Anstifter 3/2022