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„Woran wir uns messen lassen.“

von Prälat Michael H. F. Brock – Sommerfest 2015 in Liebenau

1Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. 2Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. 3Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir‘s nichts nütze. 1. Kor 13,1-3 35

Als Jesus in die Nähe von Jericho kam, saß ein Blinder an der Straße und bettelte. 36Er hörte, dass viele Menschen vorbeigingen, und fragte: Was hat das zu bedeuten? 37Man sagte ihm: Jesus von Nazaret geht vorüber. 38Da rief er: Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! 39Die Leute, die vorausgingen, wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! 40Jesus blieb stehen und ließ ihn zu sich herführen. Als der Mann vor ihm stand, fragte ihn Jesus: 41Was soll ich dir tun? Er antwortete: Herr, ich möchte wieder sehen können. 42Da sagte Jesus zu ihm: Du sollst wieder sehen. Lk 18, 35-42

Ich möchte heute der Frage nachgehen, woran wir uns messen lassen. Und ich möchte beginnen bei der Übersetzung des ersten Korintherbriefes. Wenn ich die brillantesten Theorien und beeindruckendsten Konzepte habe und sie mit unwiderstehlicher Überzeugungskraft vermitteln kann und hätte sie nur aus mir heraus geboren und wären sie nur unter uns entstanden und wären sie in den sorgfältigsten Kreisen formuliert und erdacht worden, so wären sie nichts weiter als ein dröhnender Gong oder eine lärmende Pauke. Wenn ich über alles fachliche Können und Know-how verfügen würde und alle Qualitätsstandards überträfe – selbst wenn wir das Unmögliche möglich machen könnten und es wären nur die Ergebnisse unserer Prozesse und Klausuren und Jours fixes und Rücksprachgespräche – sie wären im Grunde nichts. Und selbst wenn ich mein letztes Hemd hergeben würde und ich mir ein Bein rausreißen würde und wir einander verheizten bis zum Umfallen und wir hätten das Fundament nicht, das wir überhaupt nicht erarbeiten können, sondern das wir alleine zu all unserem Bemühen hinzugeschenkt bekommen – all unser Tun wäre im Grunde orientierungslos.

Auf die Frage aber, woher wir Orientierung nehmen und bekommen, sagen all unsere Leitbilder und Satzungen und Ordnungen gleichlautend das Richtige. Dort steht, dass wir all unsere Orientierung nehmen aus dem christlichen Werte-, Menschen- und Weltverständnis. Also möchte ich heute neu und exemplarisch anhand unseres Evangeliums überprüfen, ob es in seiner Schlichtheit und Bekanntheit nicht tatsächlich fundamentale Orientierung bewirken oder schenken möchte.

Da saß ein Blinder an der Straße und bettelte, und vielfältig könnten wir sein Gebrechen – wenn Sie so wollen: seine Behinderung – übersetzen. Vielleicht ist er ja tatsächlich schlicht sinnesbehindert und ihm fehlt die Fähigkeit zu sehen, sich mit den Augen zu orientieren. Vielleicht ist es aber auch ein Mensch, der die Welt in seiner Komplexität nicht mehr erfassen kann. Wir reden von Menschen, die keinen Durchblick mehr haben. Vielleicht ist es aber auch ein Mensch, der geistig nicht mehr in der Lage ist, die Bilder zu verarbeiten, seine Lebenswelt in Normalität zu übersetzen, sich selbst zu finden in dem, was wir Normalität nennen. Und vielleicht denken wir an die Menschen, die wir begleiten dürfen mit ihren Schwächen und Bedürfnissen. Und möglicherweise entdecken wir ja auch unsere eigenen Blindheiten, wenn wir das Bild des Bettlers am Stadttor vor Jericho vor Augen halten.

Übrigens, erlauben Sie mir diese Zwischenbemerkung: In gewissem Sinne war der Bettler vor Jericho in einem Versorgungssystem wie übrigens die Aussätzigen seinerzeit auch und die Lahmen und die Stummen und die Tauben. In ihrer Bedürftigkeit waren sie äußerlich versorgt. Denn dieser Bettler hatte eine Erlaubnis. Er hatte die Erlaubnis zu betteln. Und er konnte sich zumindest bei einigen des Mitgefühls sicher sein. Ein paar Groschen für die Blinden, einen Ort für die Aussätzigen, einen Brunnen für die Ausgestoßenen.

Als jener taube Mensch hört, dass Jesus in seine Nähe kommt, ist er nicht mehr zu beruhigen. Er schrie laut: Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! In seiner gequälten Existenz hört er in diesem Augenblick auf, um die reine Überlebensexistenz zu betteln. Ich übersetze: Es geht nicht um die erbettelten Münzen am Straßenrand und es geht nicht um Versorgungssysteme, die Unterkunft, Sauberkeit und Nahrung sichern. Und ich gehe noch weiter, es geht in keiner Weise darum, dass wir darüber befinden, ob es dem Bettler am Straßenrand gut geht und wir ein Versorgungssystem haben, das ihm Überleben sichert. Es geht in diesem Augenblick darum, aus dieser Begegnung, aus dieser Lebenshaltung Jesu, den wir jetzt anschauen, den Entwurf einer Gesellschaft zu formulieren. Einen Entwurf, der jeden Menschen mit seinen Begabungen in den Blick nimmt und einem jeden Menschen Zukunft ermöglicht.

Denn das Erbarmen fragt nicht nach äußerer Leistung. Das Erbarmen schreit geradezu nach einem eigenen Lebensentwurf. An dieser Stelle drehen sich die Leute um, und die Bibel schreibt, sie wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Denn der Ruf nach dem eigenen Lebensentwurf sprengt möglicherweise die Gesetzmäßigkeiten von Systemen. Und vielleicht ärgern sich genau jene Leute, die jenem Bettler ja das Betteln erlaubt haben und aus ihrer Perspektive keine Notwendigkeit für Veränderung erkennen, weil er ja gut versorgt ist. Jener aber vor 2000 Jahren lässt sich es nicht gefallen und er schreit wieder: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Und die Bibel fährt fort: Jesus blieb stehen, ließ ihn zu sich führen, und als jener vor ihm stand, fragte ihn Jesus – und jetzt kommt der entscheidende Satz als Haltungsmodell des Umganges mit all jenen, die wir begleiten dürfen: Jesus fragt: Was soll ich dir tun?

Wir würden das heute übersetzen und sagen, es ist eine personenorientierte Ausrichtung seiner Haltung auf sein Gegenüber hin. Ist Ihnen aufgefallen, dass in dieser Sequenz der Botschaft keine Rede ist von seinen Defiziten? Jesus muss gesehen haben, dass jener Mensch blind war. Und er müsste aus vergangener Perspektive längstens Modelle der Fürsorge entwickelt haben, wie man einem blinden Menschen hilft. Aber es geht eben nicht um die Versorgung von Defiziten. Darum geht es biblisch nicht und darum geht es uns heute nicht. Es geht im Kern um die einzige Frage, die für einen jeden Menschen wichtig ist: Was brauchst Du zum Leben? Und: Für was möchtest Du Dich entscheiden im Leben? Und: Wie kann ich als Dein Gegenüber – Auge in Auge Dir gegenüberstehend – Dir dabei behilflich sein? Möglicherweise ist es sogar eine wechselseitige Frage, die ich mir ebenfalls stellen darf und muss. Wie oft wünschte ich mir einen Menschen. Und Gott sei Dank, so oft begegnet Dir auch ein Mensch, der fragt, was soll ich dir tun. Selbst bei Menschen, von denen wir annehmen, dass sie nicht mehr antworten können, haben wir Assistenz- und Hilfesysteme, wo wir dennoch Antwort erfahren.

Noch einmal auf den Punkt gebracht. Und ich glaube, dass das entscheidend ist für unsere Arbeit heute: Nicht ich entscheide, was für einen anderen gut ist. Aber ich erlaube ihm durch meine Frage zu formulieren, was er selber an Bedürftigkeit in Befähigung verwandeln möchte und wo er dazu unsere Hilfe braucht.

Und es soll mir niemand sagen, die Bibel sei unpolitisch. An Bibelstellen wie diesen können wir unsere Haltung überprüfen. Wir können etwa auch die politische Diskussion um Inklusion daran messen. Mindestens aber können wir ein Kriterium herausarbeiten, das da heißt: niemand – die Gesellschaft nicht, die Stiftung nicht, die Politik nicht – darf politisch oder systemisch verordnen, was für einen Menschen gut ist oder nicht. Ich finde beispielsweise die politische Diskussion um unsere Stammorte, die auf einmal Komplexeinrichtungen heißen, bedenklich. Weil die Diskussion auf die Frage, was brauchst Du und was willst Du, nicht antwortet. Und das Entweder-oder von Systemen Menschen in ihrer Entfaltungsmöglichkeit oder zumindest in ihrem Entfaltungspotenzial nur verkürzt gerecht wird.

Unsere Stiftung hat sich schon vor Jahrzehnten entschieden, eine möglichst große Bandbreite von Hilfeleistungen zu entwickeln und anzubieten, damit wir einem jeden Menschen, der uns begegnet und der zu uns ruft – biblisch gesprochen – erbarme Dich meiner, diese Frage auch ernsthaft stellen können: Was soll ich dir tun? Was brauchst du? Und ich schaue, ob ich die passgenaue Antwort für dich entwickeln oder vorhalten kann. Denn das genau ist Jesu Antwort auf die Frage, was möchtest du? Formuliert der Blinde seinen Wunsch zu leben, neu, mit Durchblick, kann Jesus antworten, du sollst es bekommen. Damals in der Bibel wurde aus fremdbestimmter Fürsorge die Ermöglichung eines eigenen Lebenskonzeptes.

Und dies wäre mein Wunsch: Dass wir unsere Leitwerte und Grundlagen unserer Arbeit nicht selber erfinden, sondern ableiten und herleiten aus der einzig gültigen Grundordnung, die maßgebend sein sollte: Es ist die Lebenshaltung Jesu Christi. Amen.