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Es wird Zeit für einen uralten Gedanken

von Prälat Michael H. F. Brock – Nachdem die Jünger Jesu schon eine ganze Weile mit Jesus zusammen waren, seine Worte gehört hatten, immer wieder seine Taten erlebten und sahen, wie er Menschen, die keine Perspektive hatten, neues Leben schenkte, sprachen sie es eines Tages aus, was wir bis heute als zu selbstverständlich ansehen, als dass wir die ganze Tragweite der Bitten der Jünger bis heute schon verstanden hätten; sie sprachen: „Herr, lehre uns beten!”

Es wird Zeit für einen uralten Gedanken

 

Bislang gehen wir viel zu schnell über diese Bitte hinweg. Ich möchte ein wenig bei dieser Bitte verweilen. Erwachsene Menschen fragen nach einem Gebet, das sie bislang nicht kennen. Je mehr sie diesen Jesus von Nazaret erlebten, desto weniger reichte ihnen ihr eigenes Beten aus. Dabei konnten sie alle beten. Jeder in seiner Sprache, in seiner Religion, Nation und Kultur. Die Jünger Jesu waren Juden. Sie kannten die Gebete der Juden. Gebete für jede Tageszeit, Gebete für den Jahreslauf, für Feste und Feiern der Juden. Spätestens mit zwölf Jahren kennen die Juden ihre Gebete, wie ich die meinen kenne. Aber auch der Hauptmann von Kafarnaum, der Römer war, kannte seine Gebete. Die samaritanische Frau am Brunnen kannte ihre Gebete und auch die syrophönizische Frau konnte beten. In einer Welt voller Kulturen und Religionen fanden und finden wir die Religionen im besten Falle im Gespräch.

 

Wir kennen aber auch die Zeiten und Augenblicke der Geschichte, in denen sich die Gebete nicht nur an bestimmte Götter richteten, sondern auch Völker und Religionen voneinander getrennt haben. Kriege sind mit Gebeten begleitet worden. Manchmal standen sich verschiedene Religionen im Wettstreit um die wahre Lehre gegenüber, manchmal auch Geschwister-Religionen. Es macht mich nachdenklich und traurig wie wir Menschen die Macht der Religion schon so oft missbraucht haben. Im Augenblick stehen sich in der Ukraine zwei christliche Armeen gegenüber, die beide je- Es wird Zeit für einen uralten Gedanken weils von ihrem Patriarchen, der eine in Moskau, der andere in Kiew, mit jeweils ihren Gebeten begleitet werden, gesegnet für den Krieg.

 

Beten die Mütter und Ehefrauen dieser Menschen eigentlich zu den gleichen Göttern? Ich bin mir nicht mehr sicher. Ich bin mir aber sehr sicher, dass das Verhalten Jesu, seine Haltung zum Menschen, die Jünger bewogen hat, nach einem neuen Gebet zu fragen. Oder besser gesagt: Die Jünger erlebten Jesus so, dass kein bisheriges Verhalten mehr zu den Gebeten der Welt passte, das die Jünger bislang kannten. Kein jüdisches und auch kein anderes. Denn ein Merkmal im Verhalten Jesu zeichnete ihn aus: Er betrachtete die Menschen nicht nach Zugehörigkeit zu einer Nation, einer Kultur oder einer Religion. Er betrachtete die Menschen als Menschen, mit ihrer jeweils eigenen Bedürftigkeit.

 

Die Menschen seiner Zeit – und ich stelle betrübt fest, dass dies bis heute gilt – waren ein solches Denken nicht gewohnt. Jesus jedenfalls versuchte seinen Jüngern den Gedanken nahezubringen, dass wir uns, wollen wir mit Gott reden, immer entscheiden müssen, zu welchem Gott wir beten wollen. Und da alle Gottesvorstellungen – damals wie heute – die Welt spalten, versuchte er es neu in diesen Worten: „Wenn ihr betet, dann sprecht als Erstes: Unser Vater!” Wir tun es bis heute. Aber haben wir schon verstanden, dass dieses Gebet in den Worten Jesu sich an einen Gott richtet, der mit dem „unser” die Menschheit als Ganzes meint? Haben wir wirklich verstanden, dass die Menschen, beten sie auf diese Weise, auf der ganzen Welt Geschwister sind? Haben wir verstanden, dass es darum geht, dass wir alle weltlichen Vorstellungen unserer menschlichen Einteilung der Welt in Reiche oder Nationen, dem Gedanken des einen Reiches Gottes unterzuordnen haben und, dass jeder auf diesem Planeten das tägliche Brot hat und ein Recht auf Vergebung?

 

Wir mögen der Versuchung widerstehen, uns schon wieder eines Gottes zu bemächtigen, den wir für unsere Zwecke missbrauchen. Er ist heilig, sagt das Gebet Jesu und es ist sein Wille, dem wir folgen sollen. Ich denke, dass wir gut daran täten, sein Gebet nicht zum Bekenntnis zu machen, dessen Auslegung wieder in unseren Händen landet und uns die Kämpfe um die Auslegungshoheit unweigerlich trennen werden. Vielleicht reicht es einfach aus, das Gebet wörtlich zu nehmen: Es gibt nur einen Gott für alle Menschen, und wir Menschen – gleich welcher Nation, Kultur und Religion – sind Kinder des einen Vaters. Brot und Vergebung ist kein Privileg, sondern eine Selbstverständlichkeit in der einen Menschheitsfamilie. Der Gedanke Jesu ist jetzt über zweitausend Jahre alt. Es wäre Zeit ihn zu leben.

 

 

Autor: Prälat Michael H. F. Brock
gelesen von: Prof. Dr. Janina Loh
Quelle: Jahresbericht 2022

 

 

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