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Ein Gebet der Angemessenheit „Dein Reich komme, Dein Wille geschehe“

von Prälat Michael H. F. Brock – Ein Beitrag zur lnklusionsdebatte

Fachtag Inklusion 2015 in Liebenau

Wenn ich es recht verstehe, versuchen wir in der seit Jahren geführten lnklusionsdebatte in gewissem Sinne eine neue Gesellschaftsordnung zu formen, in der Menschen mit Behinderung dieselbe Teilhabe, dieselben Möglichkeiten, dieselben Rechte auf Teilhabe und selbstbestimmtes Le­ben genießen, wie jeder andere Mensch auch.


Vor der ersten Tat, vor dem ersten Gesetz, vor dem ersten Schritt, möchte ich als Theologe noch einmal einhalten und innehalten. Ich tue das mit Auszügen eines Gebetes, das für uns so fundamental ist, dass es zu jeder Lebenslage auch einen Beitrag leisten kann. So fundamen­tal, dass die Menschen heute wie damals Jesus und seine Jünger davon überzeugt waren und sind, dass das Gebet – also die Art und Weise wie ich mich in Beziehung setze zu Gott – Auswirkungen haben wird auf mein Leben in dieser Welt.


Die Jünger Jesu konnten schon beten – wie wir ja auch. Aber die Art und Weise, wie bisher gebetet wurde – also wie man sich in Kontakt stellte zu Gott und was lebenspraktisch aus jenen Gebeten resultierte – das wurde augenscheinlich von den Damaligen als mangelhaft empfunden. Sonst hätten sie nicht darum gebeten, dass Jesus sie neu das Beten lehren möge.

 

Man hat im Gebet Gott gelobt, ihn gepriesen ob seiner Größe und Herrlichkeit. Damit haben wir uns selber definiert als Beschenkte, möglicherweise aber auch als Abhängige. Man hat Gott gebeten, einzugreifen in Krieg, in Not, in persönlichen Anliegen bis hin zu Dingen der Staats- und Kultur- ­und Religionsräson.

 

Gott möge dem Heer vorangehen, Gott möge die Trauernden trösten und die Hungernden sättigen. Doch die Menschen damals und auch die Jünger machten die Erfahrung – und wie oft machen wir sie auch –, dass diese Gebete weithin ins Leere gingen. Denn selten genug hat Gott Hunger und Durst gestillt, selten genug hat Gott Kriege geführt oder beendet. So hielten es die Jünger Jesu für notwendig, dass wir uns neu in Beziehung setzen zu Gott, wenn denn das Gebet die Gesellschaft neu formen soll und auch die Beziehung zu ihm, unserem Gott. Wenn wir also im Vaterunser beten „Dein Reich komme" (Mt 6,10) dann muss die Erfahrung dahinter stehen, dass unser Reich oder unsere Rei­che oder unsere Art und Weise, wie wir Gesellschaft organisieren und le­ben, als nicht ausreichend angesehen wird. Wir würden kaum um etwas Neues bitten, um etwas Hinzukommendes, wenn das Alte und Vertraute für uns auskömmlich und rein positiv besetzt wäre.

 

Wenn wir – in Analogie gesprochen – um Teilhabe ringen für Menschen, deren Teilhabe bisher ungenügend war – jedenfalls in unserer Kenntnis und Erkenntnis – dann ist es ebenfalls die Bitte, dass etwas Neues hin­zukommen möge oder dass ersetzt würde, was uns heute nicht mehr passend erscheint. Wenn wir um mehr Autonomie ringen, dann in der Erkenntnis, dass wir sie bisher nicht ausreichend gewährt oder gelebt ha­ben. Wenn wir von Selbstbestimmung reden, setzt das voraus, dass wir eine Fremdbestimmung erkannt hätten, die wir heute als Mangel ansähen.

 

Halten wir an dieser Stelle inne: Es wäre im Augenblick zu kurz gegrif­fen, das neu Hinzukommende sofort in Normen und Vorschriften von Verhaltensweisen, Ermöglichungen oder Erlaubnissen zu formulieren. Fassen Sie das Mehr an Teilhabe und Autonomie nicht sofort in Zimmer­größen – 15 Quadratmeter etwa – oder in einen Einrichtungsabstand von 500 Metern, wie sie die Landes-Heimbauverordnung vorsieht. Das alles sind Normierungen die wir, wenn wir sie ohne Background vollzie­hen, in einigen Jahren wieder als mangelhaft ansehen werden.

 

Das Gebet zwingt uns zunächst einmal zu einer gewissen Haltung. Und darum möchte ich als erstes bitten und anregen, dass unsere lnklusions­debatte eine Haltung bekommt. Als christlicher Theologe wünsche ich mir eine jesuanische Haltung. Und warum nicht die, um die die Jünger gebeten haben – nämlich als erstes und fundamental eine neue Bezie­hung zu Gott, die diese Haltung prägen soll. Also geht es als erstes nicht um unsere Gedanken von Inklusion und um unsere Antworten. sondern es geht nach der Mangelbeschreibung dessen, was noch nicht ist, viel­mehr um die Frage, ob es eine von Gott kommende Bereicherung un­serer Gedanken zur Inklusion gibt. Jesus bejaht diese Frage durch die Bitte im Vaterunser „Dein Reich komme!". Eine solche Haltung geht ganz selbstverständlich davon aus, dass Gott etwas Neues hinzuzugeben hat.

 

Also haben wir jetzt nur noch herauszubekommen, was das Reich Got­tes eigentlich ist. Ich versuche es als erstes im Ausschlussverfahren. Im Unterschied zur Auffassung Mose und der Propheten ist Gottes Reich keine Gesetzgebung und keine äußere Ordnung. Selbst die Zehn Gebote werden meistens missverstanden als Regeln, wenn man sie übersetzt mit „Du sollst nicht lügen, nicht töten, nicht stehlen". Eigentlich sind es aber Zusagen Gottes an die Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen. Sie besagen: „Solange du in Beziehung mit Gott stehst, wirst du nicht lügen, wirst du nicht töten, wirst du nicht stehlen.“

 

Das Reich Gottes ist also eine innere Haltung, nach der die Jünger Jesu fragen, wenn sie sagen: „Herr, lehre uns beten.“ Diese Haltung sagt als erstes, dass wir als Menschen nur in Bezug zu und mit Gott in der Lage sind, Neues zu schaffen. Und wieder wird es die Frage nach unserer Ge­betsart sein, ob sie denn lebenspraktisch werden kann. Erlauben Sie mir überspitzt die Formulierung, dass ein Gebet „Lass im Reich Gottes alle Wolken Fahrstühle haben, um einen barrierefreien Zugang zu gewähren" – für jeden einsichtig – wohl ins Leere gehen wird.

 

Da das Reich Gottes also keine Gesetzgebung ist und keine normative Vorgabe, werden wir schauen müssen – für jeden einzelnen und für uns als Gesellschaft – dass die Antwort individuell und angemessen ist. Das scheint mir wichtig zu sein, wenn ich im Folgenden von Angemessenheit spreche, nämlich auf die jeweilige Person zu achten, über die wir reden. Nochmal: Wenn das Reich Gottes nicht Regeln definiert, pauschal und für alle in gleicher Weise gültig ist, dann ist es wohl sehr persönlich und sehr personenbezogen. Eine konkrete Annäherung können wir uns in Anlehnung beim Apostel Paulus holen, der das Reich Gottes beschrieben hat als „Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist" (Röm 14, 17).

 

Seit der Antike beschreibt der Begriff der Gerechtigkeit ein Beziehungs­kriterium. Meist wird er sehr verkürzt angewendet auf materielle Ver­teilung von Gütern. Das Leitwort der Französischen Revolution „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit" wird dabei oft zitiert und so verstanden, dass „Gerechtigkeit" bedeute: „Jedem das Gleiche", also dieselbe Menge (beispielsweise an Besitz). In Wahrheit muss das Leitwort aber so aus­gelegt werden, dass „Gerechtigkeit" besagt: „Jedem das Seine", sprich: das, was seiner Situation gerecht wird. Danach steht jedem einzelnen Menschen das Seine, das heißt das ihm Angemessene, zu. Gerechtigkeit meint also die Berücksichtigung von Individualität. Nicht alle Menschen dürfen pauschal gleich behandelt werden, sondern sie müssen ange­messen auf ihre Person hin behandelt, begleitet und mit den entspre­chenden Zugangsvoraussetzungen zu sich selbst, zu anderen Menschen in Beziehung und zu unserer Gesellschaft ausgestattet sein.

 

Es gibt also nicht den Menschen, weder den normalsinnigen noch den Menschen mit Behinderung, der in jeglicher Art und Weise gleich be­handelt werden darf und soll. Vielmehr verlangt die Gerechtigkeit im Sinne der Angemessenheit, sich auf die Person und Persönlichkeit zu beziehen. Und deswegen müssen unsere Antworten auf menschliche Bedarfe unterschiedlich ausfallen. Dies als erstes gilt es im Namen der Vaterunser-Bitte „Dein Reich komme" festzuhalten.
Ähnliches gilt für den Gedanken des Friedens. Denn neben dem äußeren sozialen Frieden stellt sich auch der innere Friede ein als ein subjektiver Gradmesser, ob etwas für mich passt und stimmig ist. Die alten Grie­chen sprachen zunächst in der Geometrie von „Harmonia". Das heißt übersetzt „Ebenmaß". Einzelne Teile entsprechen sich so gut, dass sie zusammen ein stimmiges Ganzes ergeben. Das gilt wiederum für Be­ziehungen und ganze Kulturen. Ersetzen Sie „Teile" durch „Menschen", dann wäre die Harmonia beziehungsweise das Ebenmaß, dass sich einzel­ne Menschen in ihrer Begegnung, Zusammensetzung und Ermöglichung so gut entsprechen, dass sie zusammen ein stimmiges Ganzes ergeben.

 

Sie spüren, hier ist in keiner Weise mehr die Rede von normativen Vor­gaben, von Zwängen in bestimmten Formen, in gesetzmäßigen Erlaub­nissen, sondern es geht um die sich gut entsprechenden Bedingungen und Möglichkeiten menschenwürdigen Lebens.

 

Machen wir einen Sprung in die Gegenwart und zitieren den norwegi­schen Mathematiker und Politologen Johan Galtung*, der die Friedens­- und Konfliktforschung mit begründet hat. Er nennt die reine Abwesen­heit von Gewalt und Zwang einen „negativen" Frieden. Ein „positiver" Frieden erfordert zusätzlich die Abwesenheit von Diskriminierung, ungleicher Verteilung der Möglichkeiten, vom Einkommen angefangen über die Bildungschancen bis hin zu den Lebenserwartungen. Hier einen positiven Ausgleich zu schaffen, ist politische Verantwortung und wird gestützt, wenn wir diese Art Frieden anschlussfähig halten wollen an das biblische Verständnis. In der Bibel bedeutet Frieden ein Heil- und Ganz-Sein. Der Friedensgruß Schalom drückt den Wunsch nach Wohlbefinden, persönlicher Stimmigkeit für sich selbst als auch im sozialen Kontext aus.

 

Schließlich sei das Reich Gottes die „Freude im Heiligen Geist", so Paulus. Hier scheint mir wichtig und eindeutig zu sein, dass die Freude darin besteht, dass der Heilige Geist Unterschiede zwischen uns zulässt, wünscht, ermöglicht und möglicherweise auch voraussetzt: Die Gaben des Heiligen Geistes wie Weisheit, Erkenntnis und Prophetie gehören dazu, ebenso auch Kranke zu heilen und Zeitgeister zu unterscheiden. Aber gemeint ist nicht, dass alle gleichermaßen in derselben Erkenntnis, in der gleichen Weisheit und immer von derselben Prophetie ausgehen müssen. Die Unterschiedlichkeit entspricht biblisch gesehen der Vielfalt an Begabungen. Der eine kann gut lernen und besitzt Überzeugungs­kraft. Ein anderer kann gut zuhören. Wieder ein anderer versteht es, die Dinge zu differenzieren und zu ordnen. Es ist dabei immer der eine Geist Gottes, der den Menschen in seiner Unterschiedlichkeit gerecht wird, weil der Geist die Entfaltung der Charismen fördert. übersetzt: Wir Menschen sind Menschen unterschiedlicher Begabungen.

 

Und es wäre fatal, wenn alle Menschen gleich betrachtet, gleich behandelt und mit denselben Voraussetzungen oder Anforderungen konfrontiert würden wie alle anderen auch.
Wir fallen immer wieder zurück auf den Begriff der „Angemessenheit". Was ist für meine Begabung, für meine Möglichkeit, für mein Handicap, für mein Glück und Leid angemessen und wie erreiche ich die Selbsterkenntnis und nicht die Fremdsteuerung dieser Angemessenheit. Es geht um eine Angemessenheit in Autonomie und Selbsterkenntnis bei aller Verschieden­heit, die für die Entfaltung der je einzelnen Charismen erforderlich ist.

 

Wenn wir nun das mit dem „Reich Gottes" im Vaterunser erbeten haben, dürfen wir sagen „Dein Wille geschehe" (6, 10). Dann aber ist die Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse – biblisch gesprochen der Begabungen – kein irdischer Mangel, sondern göttlicher Wille. Dann wäre jede Form von Gleichmacherei – umgekehrt gesprochen – nicht der Wille Gottes.

 

Der Evangelist Matthäus war kein Fatalist, wenn er vom Willen Gottes schreibt. Für ihn war der Wille Gottes der Wille des Gottes, von dem Jesus sagt, er habe jedes einzelne Haar auf den Köpfen der Menschen gezählt (vgl. Mt 10,30).
Ich übersetze, dass die kleinste Kleinigkeit, die uns individuelle Menschen ausmacht in unserer Persönlichkeit, also auch in unseren Bedürfnissen, es wert ist, genau betrachtet zu werden. Und erst dann und vielleicht als Voraussetzung dafür, kann Matthäus schreiben: ,,Gott weiß, was ihr braucht, noch bevor ihr ihn um etwas bittet" (vgl. Mt 6,8). Dann möge das aber auch der Maßstab sein, wie wir unsere Gesellschaft neu ordnen in Bezug auf die Inklusion von Menschen mit Behinderung. Dass wir jeden einzelnen so gut kennen, dass wir mit ihm und manchmal assistierend für ihn auch genau wissen, was er braucht. Nicht was die Gesellschaft für notwendig hält, nicht was eine Institution wie die Stiftung Liebenau für notwendig hält, sondern umgekehrt, was seinen persönlichen und individuellen Bedürfnissen und Interessen entspricht.

 

Und insofern hat das Vaterunser uns eine Menge zu sagen. Ich halte fest: Das Reich Gottes, in dem Gott seinem Willen Geltung verschafft, ist kein Ort, keine normative Größe, kein Gesetz und keine Verordnung und schon gar nicht ein in Architektur gebrachtes Verständnis von Teilhabe.

 

Sondern das Reich Gottes ist ein Bild für eine Beziehungsqualität Gottes zu jedem einzelnen Menschen.
Sie fordert uns auf, in unserer eigenen Beziehungsqualität zwischen uns Menschen die Einmaligkeit jeder einzelnen Person anerkennend Rech­nung zu tragen und einen jeden Menschen zu seiner Selbstentfaltung kommen zu lassen.

 

Da von Gott jeder Mensch angenommen wird, wie er ist, und nicht, wie er sein könnte, wird es biblisch erklärbar und zum Maßstab, wenn Gott in Genesis 1 sagt: ,,Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und es war sehr gut".

 

Der Anspruch von Inklusion bedeutet also in einem Satz gesprochen: Für jeden einzelnen Menschen Zugänge, Systeme, Erlaubnisse, Befähi­gungen und Begleitungen zu finden, sodass jede einzelne Person von sich selbst, in ihrem Beziehungsgefüge und ihrer Art der Teilhabe in der Gesellschaft sagen kann: ,,Für mich ist es gut."


*Johan Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: Dieter Senghaas (Hg.), Kritische Friedensforschung, Frankfurt/M. 1971, 55-104.