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„Denn ich war hungrig…"

von Prälat Michael H. F. Brock – Stiftungstag 2015 in Liebenau

31Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit. 32Und alle Völker werden vor ihm versammelt, und er wird sie voneinander sondern, wie der Hirt die Schafe von den Ziegen sondert. 33 Und die Schafe wird er zu seiner Rechten stellen, die Ziegen zur Linken. 34Dann wird der König denen zu seiner Rechten sagen: Herbei, ihr Gepriesenen meines Vaters! Nehmt zum Erbe das Königtum, das euch bereitet ist seit Urbeginn der Welt. 35Denn hungrig war ich – und ihr habt mir zu essen gegeben. Durstig war ich – und ihr habt mich getränkt. Fremdling war ich – und ihr habt mich aufgenommen. 36Nackt – und ihr habt mich gewandet. Krank war ich – und ihr habt nach mir gesehen. Im Kerker war ich – und ihr seid zu mir gekommen. 37Dann werden die Gerechten anheben und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dich gespeist, oder durstig und dich getränkt? 38Wann haben wir dich fremd gesehen und dich aufgenommen, oder nackt und dich gewandet? 39Wann haben wir dich krank oder im Kerker gesehen und sind zu dir gekommen? 40Und der König wird anheben und zu ihnen sagen: Wahr ist‘s, ich sage euch: So viel ihr nur einem dieser meiner geringsten Brüder getan – mir hab ihr es getan. Mt 25, 31-40

Ich stelle mir Jesus im Kreis seiner Jünger vor. Ein Abend oder ein Tag wie heute, da wir uns versammeln, um nachzudenken über das, was wir tun, wie wir es tun, warum wir es tun? Welche Wege wir gehen? Warum wir neue Wege suchen? Ob wir überhaupt neue Wege suchen? Eine Frage, die ich mir lange und oft gestellt habe: Warum wollte Jesus überhaupt Veränderung? Und welche Art Veränderung wollte er?

In einem seit Jahrtausenden bestehenden System des Glaubens, in dem alles geordnet war und das Verhältnis zwischen Gott und Mensch doch klar definiert war. Er, der Schöpfer, der uns geschaffen hat. Wir, die Menschen, die wir ihm unser Leben verdanken. Und es war geregelt, was zu regeln war. Wie wir uns verhalten ihm gegenüber, dem allmächtigen Gott: verdankend, geschuldet.

Und wie wir uns zueinander zu verhalten haben: angemessen, Auge um Auge, nicht übertrieben, leicht militärisch, immer auf Schutz bedacht, unterwürfig, opfernd, dankend, lobpreisend. Immer vor Augen, dass uns eines Tages ein Gericht erwartet. Was für damalige Zeit nicht schrecklich klang, eher wieder befreiend. Gott wird richten, was wir nicht vermögen.

Aber gefühlt ist der Glaube eine Leistungsgesellschaft geworden – auch und gerade im Religiösen. Ein Forderungskatalog, ein Gebote- und Verbote- Katalog zur Erreichung von Zielen und zur Vermeidung von Gericht und Verurteilung. Ein System der Gerechten mit Regelungen bis in die kleinsten Kleinigkeiten des Alltags hinein. Vom Sabbatgebot zur Handwaschung. Vom Reinheitsgebot zur Gastfreundschaft. Und alle Regelungen hatten das Ziel, dass wir vor Gott gerecht dastehen, bis eines Tages die Zeit gekommen sein mag, dass er wiederkommt zu richten und zu trennen. Die Schafe von den Ziegen.

Ähnliche Fragen könnten wir uns als Stiftung stellen – auch als Sozialunternehmen: Wer sind wir? Was tun wir? Mit welcher Motivation tun wir es? Mit welchen Mitteln setzen wir es um? Sind wir reine Dienstleister am Menschen? Ist es ein Broterwerb – ein guter sogar? Noch dazu mit der Idee, Menschen in ihrer Hilfsbedürftigkeit beizustehen – aber mehr auch nicht? Oder ist es ein Arbeiten nach Regelsystemen, nach Angebot und Nachfrage, nach gesetzlichen Vorschriften und im Rahmen von Refinanzierungen, mit guten Motiven, mit einer brillanten Geschichte, mit biblischen Vorbildern, zu heilen, was verwundet ist?

Ist es einfach damit getan, Blinden die Augen zu öffnen, Lahmen das Gehen beizubringen? Reicht das aus in der langen Tradition einer Kirche, die immer gesagt hat: „Ihr dürft nicht nur beten, ihr sollt auch handeln. Ihr dürft nicht nur verkünden, ihr sollt auch leben, was ihr tut, was ihr verkündet.“ Ich möchte mit Ihnen heute darüber nachdenken, was Jesus damals bewegt hat und ob es wenigstens der Spur nach zu übertragen wäre auf heute.

Das erste ist, Veränderung im Glauben oder im Leben darf nie ein Selbstzweck sein. Das macht auch niemand – Veränderung um der Veränderung willen.

Im gut Gewohnten zuhause zu sein, bedeutet auch immer ein wenig, sich darin ausruhen zu wollen. Möglicherweise sich auch ausruhen zu dürfen. Ich möchte aber über Veränderung reden und das in mehreren Stufen. Es gibt einen ersten winzigen Motivationsschub für Veränderungen – Veränderungen ersten Grades möchte ich sie nennen – und der würde heißen: Ich möchte etwas besser machen.

Dann würden wir in unserer Kirche vielleicht ein wenig an der Gestalt unserer Liturgie verändern. Wir würden vielleicht eine etwas bessere Sprache finden wollen, um das immer Gleiche verständlicher zu sagen, zu besingen oder zu verkünden. Wir wären vielleicht ein wenig vorsichtiger in der Art, wie wir uns als Kirche präsentieren und in ihr wahrgenommen werden – vielleicht eine Spur weniger klerikal und pompös und anmaßend. Es gäbe eine Menge Möglichkeiten, alles beim Alten zu lassen, es aber eine Spur besser zu machen.

Diese Möglichkeit haben wir als Stiftung auch. Wir würden uns zusammensetzen, unsere Soll-Ist-Definitionen, unsere Zustandsbeschreibungen erheben, auswerten und optimieren. Wir würden es fassen in Protokollen, Rücksprache-Gesprächen oder Jahreszielen. Wir wären ausreichend beschäftigt. Wir wären sicher, dass wir schon das Richtige tun in allen Bereichen, denn wir würden das Bestehende ja durchaus verbessern. Im Grunde wären wir damit gute Traditionalisten, moderne Traditionalisten. Und wir würden – weil wir das Alte immer besser machen – uns auch immer für die Besten halten.

Das Prädikat „innovativ“ würden wir dafür allerdings nicht bekommen. Vielleicht würden wir uns dann verständigen können, dass es eine Veränderung zweiten Grades braucht, die da heißt: „Wir halten es für geboten, Dinge anders zu machen.“

Wir würden also nicht nur überprüfen, was wir tun und wie wir es tun, um es etwas besser zu machen. Eine Veränderung zweiten Grades – wie ich sie verstehe – bedarf einer ganz anderen Plattform. Jetzt ginge es nicht mehr darum, Arbeitsvorgänge zu optimieren, Vorgaben und Ziele neu zu fassen für das nächste Jahr. Es ginge jetzt darum, bestehende Systeme zu überprüfen. Zunächst auf ihre Motivation hin, auf ihre visionäre Kraft hin, und wir würden neben dem Bestehenden – was wir natürlich ständig verbessern wollen – Neues versuchen auf der Erkenntnis des Alten und wären in der faszinierenden Welt der Innovationen angelangt.

Innovation ist nicht mehr möglich mit der Veränderung von Vorgaben oder durch die Intelligenz eines Beraters. Für Innovation braucht es die Bereitschaft, sich auf die Instabilität eines Systems einzulassen – auch auf die Instabilität in mir als Mensch. Wenn man so will, die Innovation durchbricht selbst die verbesserten Systeme und ist durch hierarchisches Vorgehen oder über Vorgaben in Ist und Soll nicht mehr zu vereinbaren. Das wird nur gelingen mit Menschen, die den Mut zur Faszination haben, einen Mut, der auch das Loslassen beinhaltet.

Aber so richtig spannend wird es doch erst, wenn sich der zweite Grad von Veränderung – die Innovation – paart mit dem dritten Grad der Veränderung, den man in der Systemtheorie auch den Paradigmenwechsel nennt. Wenn die Vorgehensweise diejenige ist, dass wir zuerst und vor aller Aktivität nach dem Sinn fragen, den die Veränderung haben soll. Wenn wir uns zusammensetzen und uns gegenseitig verständigen, auf welcher Basis wir Veränderung wollen, welche Spielregeln notwendig wären, um auf einem gemeinsamen Wertesystem zu stehen. Dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Und Gott bewahre uns davor, dass wir auf die Idee von Innovation und Paradigmenwechsel nur dann kommen, wenn uns eine Krise ereilt. Wenn Sie so wollen, die Motivation von außen verordnet wird, weil gesetzliche Rahmenbedingungen sich verändern, weil Refinanzierungswege sich neu auftun oder verschließen, weil das Steuerrecht sich ändert oder der Geschmack der Leute oder das Verständnis der Gesellschaft.

Alle äußerlich erzwungenen Veränderungen haben selten etwas mit Innovationskraft zu tun, sondern bleiben auf dem ersten Grad der Veränderung hängen – im Bestehenden es besser machen zu wollen.

Jesu Kraft zur Veränderung war seine fundamentale Neudefinition des Verhältnisses „Gott – Mensch“. Er musste sämtliche Vorstellungen seiner damaligen Zeit und Generationen gelebten Judentums über Bord werfen, weil er der festen Überzeugung war, dass sein Menschen- und Gottesbild fundamental eine Veränderung bewirkte, die er für sich als faszinierend, lohnend und wahr erkannt hatte.

Und nur so wird es gehen, wenn auch wir innovativ einen Paradigmenwechsel im Kopf vollziehen, der das Fundament unserer Aufgabe ist.

Wenn bei Matthäus heute steht: „Denn hungrig war ich – und ihr habt mir zu essen gegeben. Durstig war ich – und ihr habt mich getränkt. Fremdling war ich – und ihr habt mich aufgenommen. Nackt – und ihr habt mich gewandet. Krank war ich – und ihr habt nach mir gesehen. Im Kerker war ich – und ihr seid zu mir gekommen.“ Dann werden diejenigen es nicht verstehen, die sich in ihrem Glauben einen Gott denken, dem wir dienen müssten. Dann wäre Leben und Glauben nur noch Leistung.

Wer noch immer einem Gott folgen will, nur weil er Gericht spricht über uns und wir uns also ängstigen müssten um unser Seelenheil, der wird nicht begreifen, dass Jesus fasziniert war von der Vorstellung eines Gottes, der uns geschaffen hat, damit wir die sein dürfen, die wir sind. Menschen mit Begabungen und Stärken, aber auch Menschen mit Schwächen und Leid, und er wird neugierig sein darauf, wie wir uns von Mensch zu Mensch menschlich verhalten. Nicht, weil Gott es von uns verlangt, sondern weil wir das Leben als Geschenk von Gott betrachten.

Und es lässt sich analog beschreiben: Wir sind auch nicht Stiftung, weil wir Dienstleister sein wollen, und sei es um der Menschen Willen. Wir sind nicht Stiftung, weil wir Teil eines Systems sind, das freie Wohlfahrtspflege heißt. Wir sind kirchliche Stiftung, weil wir den Paradigmenwechsel vollzogen haben, den wir in Jesus Christus gestiftet sehen, dass wir Menschen uns um den Mensch sorgen, weil wir Menschen sind.

Jetzt bin ich nicht weltfremd. Ich weiß, in welchen Zwängen und in welchen Gesetzmäßigkeiten und in welchen Ordnungen auch unsere Leistungen verortet sind. Und dennoch ist es für mich die größte Innovation, die immer wieder neu zu erarbeiten ist, sich innerlich frei zu machen von Systemen. In ihnen zu leben, aber innerlich frei zu sein, den Menschen in seiner Ursprünglichkeit zur Seite zu stehen und in jeder geleisteten Menschlichkeit als erstes auch den Menschen zu sehen.

Als die Jünger Jesus fragten, „wie können wir am besten Gott dienen?“, hat Jesus geantwortet mit eben jenem Gleichnis, dass wir Gott am meisten dienen, wenn wir uns um den Menschen kümmern. Der innovativste Paradigmenwechsel, den es religionsgeschichtlich je gegeben hat, war diese Antwort Jesu auf die Frage, wie man Gott dient. Seine Antwort war: „Indem man einen Hungrigen sättigt, einem Durstigen zu trinken gibt, einem Fremden Obdach gewährt und aufnimmt. Einen Nackten bekleidet und einen Kranken besucht.“

Prüfen wir unsere eigenen Systeme als Stiftung, prüfen wir unsere Logiken, unsere Motive, unsere Arbeitsweisen. Und wo sie diesem fundamentalen Anspruch Jesu gerecht werden, mag es reichen, wenn wir sie hin und wieder besser machen.

Aber wo wir dahinter zurückbleiben, werbe ich um die Faszination, die Neugierde und den Mut, loszulassen und sich einzulassen auf neue Spielregeln des Miteinanders, die manchmal auch Angst machen, die Widerstände hervorrufen, die wenig begeistern, weil sie auch manchmal Loslassen von Vertrautem bedeuten. Ich bin davon überzeugt, die größte Innovationskraft in der Botschaft Jesu liegt darin, den Zusammenhang zwischen Gott und Menschen als Gemeinschaftsgeschichte zwischen Himmel und Erde zu begreifen und daraus das faszinierende Programm abzuleiten, dass Menschen sich um Menschen kümmern, weil sie Menschen sind. Diese Faszination beflügelt uns bis heute und begründet unsere Arbeit in dem Plädoyer Jesu, der da sagt: „Wahr ist‘s, ich sage euch: So viel ihr nur einem dieser meiner geringsten Brüder getan – mir habt ihr es getan.“

Nachdenklich möchte ich schließen. Mit einem ganz persönlichen Wort. Wir Vorstände sitzen viel in Konferenzen. Versuchen zu vernetzen, zu steuern, zusammenzuhalten. In gewisser Weise tun Sie als Führungskräfte der Stiftung ganz ähnliches. Manchmal fragen wir uns, ob wir noch den Dürstenden begegnen, den Hungrigen, den Obdachlosen und Kranken. Spüren wir noch die Not von Kälte und Krankheit, oder sind wir schon zu weit weg in unserem Erleben, dann aber auch in unserem Denken und Fühlen? Das wäre fatal. Wir drei Vorstände, Dr. Broll, Dr. Nachbaur und ich schlagen vor: Schauen wir, im Bild der Bibel gesprochen, hin und wieder ans Ende der Karawane, mit hohem Ernst und ganz lebensbezogen.

Lassen Sie uns einen Tag in einer Einrichtung der Stiftung als Hilfskraft arbeiten. Spüren wir dem nach, was es bedeutet, einen Menschen zu waschen, ihm Essen zu geben. Oder lassen Sie uns in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung als Tagesbegleiter arbeiten. Lassen wir uns auf die Begegnung einmal selber ein. Wir denken, wenn wir einmal alle Hierarchieebenen verlassen, werden wir wieder mehr die Not und das Glück, die Sehnsucht und die Zufriedenheit derer spüren, die wir begleiten dürfen. Vielleicht die beste Form, um innovativ zu werden, das eigene Erleben zuzulassen und zu spüren, was Menschen Not tut.

Vielleicht macht es uns auch bei den Mitarbeitern glaubwürdiger, wenn wir wissen, von was wir reden, und sagen können: Ich habe dich gespürt, den Hunger in deinem Herzen, den Durst in deiner Seele, den Kummer in deiner Erinnerung und die Einsamkeit in deinen Nächten. Und habe sie berührt. Amen