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„Das Umfeld an die Menschen anpassen – nicht umgekehrt“

RAVENSBURG – Dr. Stefan Thelemann, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Traumatherapie und Suchtmedizin, leitet im Berufsbildungswerk den Fachdienst Diagnostik und Entwicklung. Dieser hat unter seiner Regie schon vor Jahren eigene spezielle Konzepte für bestimmte Störungen erarbeitet – zum Beispiel bei ADHS oder eben auch Autismus.

Interview mit Dr. Stefan Thelemann

Dr. Stefan Thelemann, Leiter des Fachdienstes Diagnostik und Entwicklung im Berufsbildungswerk der Stiftung Liebenau.

Herr Dr. Thelemann, der Ruf als Berufsbildungswerk mit einer ausgesprochenen Expertise in Sachen Autismus eilt Ihnen längst voraus. Seit gut anderthalb Jahrzehnten schon bildet das BBW Menschen aus dem Autismus-Spektrum erfolgreich aus. Jetzt haben Sie sich offiziell zertifizieren lassen – warum?
Das Gütesiegel „Autismus gerechtes Berufsbildungswerk“ und die damit verbundene externe Beurteilung unserer Arbeit ist ein sichtbares Zeichen, dass hinter den ganzen Programmen, Konzepten und Maßnahmen die nötige Qualität steckt, um Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung optimal zu betreuen und zu fördern. Das ist nicht nur eine Orientierungshilfe für Betroffene und ihre Angehörigen. Gerade gegenüber unseren Kostenträgern wird es immer wichtiger, anhand solcher Zertifizierungen das vorhandene Know-how auch formal nachweisen zu können. Und das ist dann letztlich auch ein Kriterium für die gute Belegung...

...die zeigt, dass Ihnen und Ihrer Arbeit ja offenbar bisher schon eine große Wertschätzung entgegengebracht wird – ist der Anteil der angemeldeten Teilnehmenden mit Autismus im BBW doch in den vergangenen Jahren stark gestiegen.
Wir haben hier am BBW einmal mit drei Betroffenen angefan-gen und uns dann immer mehr spezialisiert. Aktuell betreuen wir in unseren verschiedenen Maßnahmen in Berufsvorbereitung und Ausbildung über 130 junge Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung.

Wie lässt sich dieser Anstieg erklären? Gab es früher nicht so viele Autisten, oder wurden sie nur nicht als solche erkannt?
Es gab diese Menschen deshalb nicht, weil sie nicht diagnostiziert wurden. Heute geschieht das sehr viel früher und zuverlässiger, weil sich die diagnostischen Grundlagen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den vergangenen Jahren wesentlich verbessert haben. In der Regel liegt die Autismus-Diagnose also schon vor dem Übergang in Ausbildung und Beruf vor, sodass die jungen Menschen aufgrund dieser Störung bei uns im BBW angemeldet werden – und zwar aus einem immer größeren Einzugsgebiet.

Trotz dieser Entwicklung ist aber auch Ihr Fachdienst noch in der Autismus-Diagnostik gefragt...
Ja, wir bekommen regelmäßig auch Anfragen von Erwachsenen aus der Altersgruppe zwischen 25 und 45 Jahren, die sich bei uns diagnostizieren lassen wollen. Aber auch bei unseren Jugendlichen kommt es immer wieder mal vor, dass sie erst hier ihre Autismus-Diagnose erhalten oder dass wir auf der anderen Seite bei ihnen feststellen: Es liegt gar keine autistische Störung vor, sondern zum Beispiel eine Bindungsstörung, bei der die Symptome ganz ähnlich sein können – und die Liste dieser sogenannten Differenzialdiagnosen ist sehr lang. Generell wird eine Autismus-Diagnose heutzutage aber immer frü-her gestellt. Optimaler Weise sollte sie schon im Grundschulalter vorliegen, um mit entsprechenden Hilfen so früh wie möglich beginnen zu können. Wobei Autismus bei jungen Mädchen immer noch vergleichsweise spät entdeckt wird, oft erst mit 17 oder 18 Jahren.

Warum ist das so?
Weil sie es besser kompensieren können, oder auch weil sie zum Beispiel zusätzliche Essstörungen oder Depressionen entwickeln, die dann in den Vordergrund drängen und den Autismus „verdecken“.

Und doch gibt es auch Fälle junger Männer, die lange nichts von ihrem Autismus wussten und dann erst auf der Uni oder sogar erst nach dem Berufsstart deswegen scheiterten.
Es gibt hochfunktionale Autisten, die im Abi oder auch im Stu-dium zunächst noch ganz gut klarkommen. Erst, wenn es um komplexe soziale Aufgaben geht, wenn die in Schule und Uni vorgegebenen Strukturen verloren gehen, gibt es Probleme. Und dann landen solche Menschen nach Abbruch ihres Studi-ums unter anderem im BBW, um hier eine Ausbildung zu machen – in einem Umfeld, das ihnen das ermöglicht.

Wie sieht dieses Umfeld aus?
Da geht es um Dinge wie die Schaffung einer reizarmen Arbeitsumgebung mit genügend Rückzugsmöglichkeiten, festen Bezugspersonen, verlässlichen Strukturen und einem realistischen Arbeitspensum, das Unter- und Überforderung vermeidet. Wir bieten jungen Menschen mit Autismus ein optimales Umfeld für einen beruflichen Start oder Neustart. Unsere Fachkräfte aus Berufsschule, Ausbildung und Wohnheim sind geschult und erfahren im Umgang mit den speziellen Bedürfnissen dieser Klientel. Dazu unterstützen wir vom Fachdienst Diagnostik und Entwicklung den Ausbildungsprozess durch Autismus spezifische Beratung, Trainings und Coaching. Unsere Aufgabe ist es, in der Ausbildung und dann später auch auf dem Arbeitsmarkt gemeinsam mit den betroffenen Azubis geeignete Nischen zu finden, in denen sie ihre Talente, Fähigkeiten oder Spezialinteressen entfalten können und die individuell auf sie zugeschnitten sind. Es geht darum, das Umfeld an die Menschen anzupassen und nicht die Menschen an das Umfeld. Das gilt insbesondere auch für die Belastungssteuerung. Autisten agieren im Alltag stets an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Der Puffer ist geringer als bei Menschen ohne Beeinträchtigung.

Wie meinen Sie das?
Menschen ohne Autismus haben ungefähr einen Puffer von 20 Prozent, um ein Mehr an Stress abzufangen. Das heißt: Wir so-genannten neurotypischen Personen bewegen uns im Ar-beitsalltag normalerweise nicht ständig am Anschlag. Bei Menschen mit Autismus ist diese Reserve geringer. Sie merken erst im Nachhinein, wenn sie sich zu viel zugemutet haben. Die Gefahr der Überforderung ist bei ihnen viel größer. Darauf muss man in der Ausbildung und auch später im Arbeitsleben achten. Dieser Überschreitung der Belastbarkeitsgrenze gilt es vorzubeugen durch entsprechende Maßnahmen. Eine richtige Belastungssteuerung ist also enorm wichtig; Ruhepausen müssen eingehalten, Auszeiten gewährt werden. Und das Umfeld und die Vorgesetzten brauchen das nötige Wissen, um damit adäquat umzugehen.

Dann klappt es mit dem Sprung in den Job?
Dann kann es gut klappen. Wir haben allein in diesem Sommer rund 50 Absolventen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in den Arbeitsmarkt verabschiedet. Die allermeisten von ihnen haben eine Beschäftigung gefunden.

Apropos Arbeitsmarkt: Sind es tatsächlich die als typisch geltenden Berufe in Informatik oder Lagerlogistik, die für Autisten attraktiv sind?
Es kommen durchaus auch Autisten als Schreiner oder in der Landwirtschaft unter, das kommt immer auf die betroffene Person an. Manche entscheiden sich auch für Dienstleistungsberufe wie im Verkauf und bekommen das gut hin, wobei das eher die Ausnahme ist. Denn es gibt natürlich schon ein paar Berufe, die vielen Menschen mit Autismus von der Struktur her besser liegen als andere. Jobs in der IT oder im Bereich Lager gehören hier dazu. Aber nicht jeder Mensch mit Autismus ist gleich. Je stärker oder schwächer er von der Störung betroffen ist, desto mehr oder weniger öffnet sich für ihn auch die Berufswelt.

Diesen und weitere Artikel zum Thema Autismus finden Sie in der Ausgabe 2/2019 unseres Magazins „Auf Kurs“, das Sie hier kostenlos lesen können – als PDF oder E-Book.

 

 

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