Seitlich streichen für weitere Aufgabenfelder <>

„Mit Mut und Zuversicht in die Zukunft“

RAVENSBURG - 150 Jahre Stiftung Liebenau - Meilensteine, Krisen, Erfolge und Herausforderungen im Aufgabenbereich Bildung und natürlich die Corona-Pandemie: Die Geschäftsführer des Liebenau Berufsbildungswerks (BBW), Christian Braun und Herbert Lüdtke, blicken im Interview zurück und nach vorn.

Die BBW-Geschäftsführer Herbert Lüdtke und Christian Braun

Herbert Lüdtke (links im Bild) und Christian Braun, Geschäftsführer des Liebenau Berufsbildungswerks: "Bei uns bekommen junge Menschen mit besonderem Förderbedarf das, was sie brauchen, um am Ende den Zugang zur Arbeitswelt zu bekommen. Wir sind ein Inklusionsschlüssel!"

150 Jahre Stiftung Liebenau: Was bedeutet dieses Jubiläum?

Herbert Lüdtke: Zunächst einmal, dass hinter der Stiftung Liebenau sehr viel Geschichte steckt – und dass man in dieser auch Krisen überstanden hat, die zum Teil noch wesentlich massiver waren als das, was gerade mit Corona passiert. Wenn man zum Beispiel an die Zeit des Nationalsozialismus denkt, in der Menschen mit Behinderungen – auch aus Liebenau – deportiert und ermordet wurden. Die Stiftung Liebenau steht mit ihrer Erfahrung, Tradition und Arbeit für Verlässlichkeit, für Werte und eine christlich-katholische Grundhaltung, die sie auch durch schwierige Phasen trägt und die sich in ihrem Leitwort ausdrückt: In unserer Mitte – Der Mensch. Und das gibt Mut und Zuversicht mit Blick auf die Zukunft.

Christian Braun: Die Stiftung hat sich im Laufe der Zeit enorm weiterentwickelt, dabei immer die Menschen und ihre Bedarfe im Fokus gehabt, und ist heute sehr differenziert aufgestellt. Einerseits hat sich dadurch die Komplexität erhöht – und hier im Verbund eine gute Mischung aus Gemeinsamkeiten und Unterschieden hinzubekommen, ist durchaus auch eine Herausforderung. Andererseits steht die Stiftung Liebenau so auf einem breiten Fundament, was in schwierigen Zeiten hilfreich ist. Auf 150 Jahre betrachtet, relativiert sich aber auch eine Krise wie die jetzige. So wie die Stiftung schon so vieles geschafft hat, wird sie auch das jetzt schaffen. Aber natürlich ist es sehr schade, dass die ganzen geplanten Feierlichkeiten und Veranstaltungen Corona zum Opfer gefallen sind. Es wäre bestimmt ein tolles Jubiläumsjahr geworden! 

Stichwort Corona: Wie lief im BBW der Wiedereinstieg nach der siebenwöchigen pandemiebedingten Schließung?

Lüdtke: Die Jugendlichen sind gerne wieder gekommen. Sie waren froh, wieder einen geregelten Tagesablauf und Struktur zu haben. Diese Zeit war für viele nicht so einfach.

Und wie wird die „neue Normalität“ angenommen?

Lüdtke: Die Jugendlichen machen mit, tragen Masken und zeigen Verständnis für die Regeln. Es gibt ein gutes Miteinander.

Braun: Ja, der Großteil zieht da super mit. Wir sind dankbar, insgesamt bisher gut durch die Krise gekommen zu sein. Unsere Entscheidung war, zunächst vorsichtig mit einer begrenzten Präsenzzahl wieder einzusteigen, also nur 50 bis 70 Prozent der sonst üblichen Teilnehmenden auf dem Gelände zu haben. Diese Anlaufphase hat auch dazu geführt, dass sich bei den Jugendlichen und Mitarbeitenden ein sicheres Gefühl entwickelt hat.

Trotz Krise haben ja so gut wie alle Prüflinge im Sommer 2020 ihren Abschluss geschafft. Doch wie sieht es in der aktuellen Situation mit der Integration in den Arbeitsmarkt aus?

Braun: Wir hatten im vergangenen Jahr – bei einem sehr guten Arbeitsmarkt – eine überragende Vermittlungsquote, in der Gastronomie zum Beispiel hundert Prozent. Das ist natürlich in diesem Jahr unter ganz anderen Vorzeichen schwieriger. Je nach Branche gibt es Betriebe, die durch Corona sehr stark betroffen sind und eher an Kurzarbeit oder Arbeitsplatzabbau denken, als an Neueinstellungen. Von daher wird sich die Krise wohl auf die Vermittlungszahlen für 2020 auswirken. Die vielen Neuanmeldungen für das laufende Ausbildungsjahr zeigen aber auch: Das BBW ist ganz offensichtlich ein Ort der Verlässlichkeit, an dem junge Menschen, die gerade in dieser Zeit vielleicht eine schlechtere Perspektive haben, gut aufgehoben sind. Und wenn die Krise vorbei ist, haben sie – mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung in der Tasche – voraussichtlich wieder sehr gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt. 

Apropos Neuanmeldungen: Mehr als 250 junge Menschen sind in diesem Spätsommer an den BBW-Standorten in Ravensburg und Ulm in eine Berufsvorbereitung oder -ausbildung gestartet. So gut waren die Belegungszahlen aber nicht immer...

Lüdtke: Um das Jahr 2005 herum kam es im BBW zu einer sehr ernsten Belegungskrise, und es herrschte eine große Unsicherheit, wie sich der Bereich der beruflichen Rehabilitation überhaupt weiterentwickeln würde und was die Politik damit vorhat. Es war die Zeit, in der sich die Bundesagentur für Arbeit neu aufstellte, Sozialgesetze geändert wurden – alles mit massiven Auswirkungen auf die Berufsbildungswerke.  

Wie haben Sie darauf reagiert?

Lüdtke: Mit Spezialisierung und Differenzierung gleichermaßen. Auf der einen Seite haben wir unsere Fachlichkeit weiter ausgebaut, Konzepte entwickelt für Menschen mit psychischen Störungen und ganz speziell auch für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen, und damit ganz bestimmte Personenkreise angesprochen. Auf der anderen Seite mussten wir uns aber auch breiter aufstellen und neue Maßnahmen anbieten. Dazu gehörte damals neben verstärkten Angeboten in Sachen Erwachsenenbildung zum Beispiel unser Einstieg in die Jugendhilfe. Seitdem haben wir uns  zu einem großen Jugendhilfeträger in der Region entwickelt.

Braucht es solche Krisen wie die von 2005 zur Veränderung?

Braun: Unsere Strategie muss es sein, dass es im Idealfall eben keine erneute Krise mehr braucht, um gut für die Zukunft aufgestellt zu sein – wohlwissend, dass wir natürlich auch nicht alles beeinflussen können. Aber wir wollen uns frühzeitig wichtige Fragen stellen: Wie müssen wir uns heute verändern oder anpassen, damit wir zukunftsfähig bleiben? Es geht darum, Bilder zu entwickeln – im Einklang mit dem Gesamtunternehmen und gemeinsam mit unseren mittlerweile über 500 Mitarbeitenden, was wir auch bei unseren Organisationsentwicklungstagen getan haben. Woran richten wir uns aus? Was ist unser Fundament, was unsere Visionen und Ziele?

Und das Ergebnis?

Braun: Wir haben unser Verständnis von Bildung und Inklusion ausformuliert. Dazu kommen Haltungsleitsätze, die wir im vergangenen Jahr erarbeitet haben. Das alles gibt uns einen Rahmen für unser Handeln als Einrichtung und trägt den Anforderungen, die der Wandel vom klassischen BBW für Lernbehinderte hin zum differenzierten und dezentraler aufgestellten Bildungsträger mit sich bringt, Rechnung.

Was ist mit der ursprünglichen Zielgruppe, Menschen mit Lernbehinderung?

Lüdtke: Die gibt es natürlich weiterhin! Und es sind nicht wenige. Nach aktuellen Schätzungen von Prof. Karl-Heinz Eser vom Wissenschaftlichen Beirat des Bundesverbandes LERNEN FÖRDERN leben in Deutschland insgesamt zwischen 1,8 und zwei Millionen Menschen mit Lernbehinderung. Und schätzungsweise zirka 2,5 Prozent der jüngeren Altersgruppen sind davon betroffen. Für diese Klientel sind wir als Berufsbildungswerk in Sachen Ausbildung immer noch die wichtigste und kompetenteste Anlaufstelle.

Wie erlebte das BBW die Inklusionsdebatte?

Lüdtke: Auch beim diesem Thema rückten die Berufsbildungswerke in den Fokus. „Schluss mit den Sonderwelten“ war so ein Motto. Die letzten zwei, drei Jahre hat sich diese Debatte aber wieder  ziemlich beruhigt, und man orientiert sich mehr an der Realität. Wir haben auch immer gesagt: Wir sind keine Sonderwelt, sondern bilden das ab, was auch in der Gesellschaft läuft. Wir sind eine personen- und bedarfsorientierte, betriebsnahe Bildungseinrichtung auf Zeit. Bei uns bekommen junge Menschen mit besonderem Förderbedarf das, was sie brauchen, um am Ende den Zugang zur Arbeitswelt zu bekommen. Wir sind ein Inklusionsschlüssel!

Eine ganz neue Personengruppe tauchte dann insbesondere ab 2015 im BBW auf: junge geflüchtete Menschen.

Braun: Dieses Engagement entwickelte sich eben auch aus unserer Grundhaltung heraus: Wir schauen hin und nicht weg, wir handeln dort, wo es gesellschaftlichen Bedarf aber keine Antworten gibt. Das ist dann auch die Verbindung zu diesem „Gründergen“ der Stiftung Liebenau – und dem Wahlspruch von deren Initiator Adolf Aich: „Da sollte doch Wandel geschafft werden.“ Und das hat sich dann eben darin konkretisiert, hier auch mit jungen Geflüchteten zu arbeiten…

Lüdtke:  …indem wir zum Beispiel sogenannte Unbegleitete minderjährige Ausländerinnen und Ausländer (UmA) bei uns im Wohnheim aufgenommen oder spezielle VABO-Schulklassen für jugendliche Geflüchtete eingerichtet haben. Allein hier in Ravensburg haben wir über 120 von ihnen beschult. Das Haus war voll! Dazu kamen mehrere berufliche Qualifizierungsprojekte, insbesondere auch die erfolgreiche „Lernwerkstatt“ in Aulendorf. Wir haben uns diesen Aufgaben vor dem Hintergrund der Flüchtlingssituation ganz bewusst gestellt. Und die Stiftung insgesamt hat da ja viel Verantwortung übernommen und etwa ihre Kirche in Liebenau übergangsweise zur Verfügung gestellt. Wir im BBW haben seitdem auch ein kleines Afrika-Projekt am Laufen und unterstützen vor Ort mehrere Einrichtungen der beruflichen Bildung. Daraus entstand auch bereits ein Schüleraustausch mit einer Partnerschule in Uganda.

Zurück nach Deutschland, zurück nach Ravensburg. Auf diesen Standort fiel vor mehr als 40 Jahren die Entscheidung, ein Berufsbildungswerk der Stiftung Liebenau zu bauen. Eine gute Wahl?  Und wie ging es dann weiter?

Lüdtke: Das BBW seinerzeit hier in verkehrsgünstiger Lage in Ravensburg zu bauen und nicht irgendwo auf der grünen Wiese, war im Nachhinein auf jeden Fall eine richtige Entscheidung. Und hier fühlen wir uns auch heute noch wohl. Meilensteine in der Geschichte des BBW waren dann zum Beispiel der Bau des Schreinerzentrums, die Weiterentwicklungen im Wohnbereich und der Fachdienste, auch die Standorteröffnung in Ulm und natürlich die enorme Ausweitung des Bildungsangebotes. Ausgehend von Berufen, die in der Stiftung Liebenau schon präsent waren, erweiterte das BBW nach seiner Gründung sukzessive das Ausbildungsspektrum, das heute mehr als 50 Berufe umfasst – und immer dynamisch bleibt.

Braun: Nach wie vor ist es unsere Kernaufgabe, den Azubis die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Dementsprechend passen wir unser Ausbildungsangebot immer an die sich stets verändernden Anforderungen der Arbeitswelt an. Während zum Beispiel die Berufsfelder IT oder Lagerlogistik aktuell boomen, wurden andere nicht mehr nachgefragte Berufe im Laufe der Zeit aufgegeben.

Mit Blick in die Zukunft: Was sind die großen Themen der kommenden Jahre?

Lüdtke: Die Digitalisierung ist natürlich ein hochspannendes Thema. Wir erleben vor diesem Hintergrund einen epochalen Wandel als Gesamtgesellschaft, und natürlich hat das auch Auswirkungen auf die Arbeitswelt. Und das bedeutet eben auch für Sozial- und Bildungsunternehmen, sich entsprechend aufzustellen.

Braun: In der Ausbildung arbeiten wir ja schon länger mit digitalen Lernplattformen. Dies wurde in der Corona-Krise mit den Heimlernphasen natürlich intensiviert. Das liegt aber nicht allen Jugendlichen. Jemand, der Zimmerer lernt oder Maurer, der wird das in der Regel nicht, weil er da digital arbeiten will. Da stecken ganz andere Bedürfnisse dahinter. Der Grad der Digitalisierung bleibt also abhängig von den einzelnen Berufsfeldern und Teilnehmenden.

Wie digital war denn bei den BBW-Jugendlichen das Lernen zuhause?

Lüdtke: Wir haben nachgefragt, wie es unseren Teilnehmenden in der Heimlernphase ergangen ist. Immerhin die Hälfte ist mit dem Digitalen gut zurechtgekommen, fast genauso viele haben die Lernunterlagen aber analog per Post zugeschickt bekommen – und einen kleinen Teil hat man kaum erreicht. Die richtige Lösung fürs Heimlernen zu finden ist das eine, gerade zum Beispiel bei Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten spielen aber persönliche Beziehungen eine sehr bedeutende Rolle. Und die sind offenbar gut gewachsen, denn wir haben während der Corona-Krise kaum pandemiebedingte Abbrüche verzeichnet.

Braun: Gerade unsere „Neuen“ brauchen Zeit, um hier erst einmal anzukommen und diese Bindung aufzubauen, bevor es überhaupt um die Vermittlung von Fachlichkeit gehen kann. Wichtig ist aber, die Voraussetzungen für digitales Lernen zu schaffen. Und da tut sich politisch was. So sorgt jetzt zum Beispiel der „DigitalPakt Schule“ dafür, dass unsere Klassenzimmer in der Hinsicht besser ausgestattet werden. Insgesamt hat die Digitalisierung durch Corona schon noch einmal einen starken Schub bekommen – auch was unseren eigenen Arbeitsalltag angeht. Die Krise wird die Arbeitswelt generell nachhaltig verändern. Dienstreisen werden stärker hinterfragt werden. Videokonferenzen, Homeoffice oder mobiles Arbeiten werden eine stärkere Rolle spielen.

Welche Herausforderungen gibt es noch?

Braun: Ein wichtiges Thema ist die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung – und wie wir als BBW und als Stiftung Liebenau damit umgehen. Einerseits ist man gefordert, Position zu beziehen, für was man steht. Andererseits muss man trotzdem darauf achten, Menschen nicht zu verlieren. Haltung zu zeigen und gleichzeitig dem anderen, der diese Position nicht hat, eine Brücke zu lassen – das ist gar nicht so einfach und für ein Sozialunternehmen sehr anspruchsvoll.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Wie war eigentlich Ihr erster Tag in der Stiftung Liebenau?

Lüdtke: Ich erinnere mich gar nicht mehr so genau. Ich weiß zwar, dass es der 6. Oktober 2004 war. Aber ich kann heute nicht mehr sagen, was an dem Tag genau geschah. Zunächst galt es jedenfalls, die Stiftung in ihrer Größe zu verstehen und auch das System Berufsbildungswerk zu durchdringen. Eine gewisse Ehrfurcht vor der Arbeit war da – und ich empfand es als tolle Aufgabe, etwas für junge Menschen am Übergang von Schule und Beruf zu machen. Und dann kam ja auch schon bald die bereits erwähnte Belegungskrise von 2005, die wir bewältigen mussten.

Braun: Bei mir war es im November 2003. Ich fing damals als Vorstandsassistent bei Dr. Berthold Broll an. Gleich am ersten oder zweiten Arbeitstag fand eine Versammlung der damaligen St. Gallus-Hilfe statt, bei der ich das Protokoll führen musste. Das war eine meiner ersten Aufgaben. Und die war sehr herausfordernd aufgrund der vielen Maßnahmenbezeichnungen und -abkürzungen. Da schrieb ich einiges mit, das ich noch nicht verstand…


Dieses Interview ist in unserem Magazin "Auf Kurs" erschienen. In der aktuellen Ausgabe finden Sie weitere Artikel zum Titelthema "150 Jahre Stiftung Liebenau" und erfahren, wie die Jugendlichen und Mitarbeitenden des Liebenau Berufsbildungswerkes gemeinsam die Corona-Krise bewältigen. Schauen Sie rein ins Heft - auch digital: