Verantwortlich handeln - Was richtig und was wichtig ist
Verantwortlich handeln
Jeden Tag übernehmen wir Verantwortung. Für unser persönliches und für unser professionelles Handeln, füreinander, für das Funktionieren unserer Demokratie und für unsere Umwelt – in Coronazeiten besonders auch für das Leben und die Gesundheit der Menschen in unserem Umfeld. Auch die Stiftung Liebenau übernimmt Verantwortung: als Arbeitgeber, als Unternehmen, als Interessenvertretung für Menschen, die unsere Hilfe beanspruchen. Wir beziehen Position zu ethischen und sozialpolitischen Entwicklungen, sind in Netzwerken tätig und achten auf ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit.
Mehr darüber, wie wir in der Stiftung Liebenau Verantwortung verstehen und leben, in unserem Themendossier.
Verantwortung – eine Annäherung an den Begriff
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Mit der Verantwortung ist es so eine Sache. Einerseits hat sie eine nur schwer zu überbietende Bedeutung in nahezu allen Bereichen unseres Lebens. Andererseits wissen wir oft gar nicht so richtig, was damit in einem ganz konkreten Moment eigentlich genau gemeint ist. Einerseits finden wir es gut, zumindest potenziell Verantwortung tragen zu können. Denn damit assoziieren wir weitere Kompetenzen und Fähigkeiten, die für unser Selbstverständnis grundlegend sind – etwa, eigenständig entscheiden zu können, vielleicht auch, eine gesellschaftlich relevante Funktion zu haben, zumindest aber mündig zu sein und das eigene Leben individuell und autonom gestalten zu können. Andererseits empfinden wir Verantwortung oftmals als Last oder gar als fremdbestimmt – wenn wir uns etwa mit einer Entscheidung allein gelassen fühlen oder uns gezwungen sehen, dort urteilen zu müssen, wo wir es nicht wollen, ja, es vielleicht gar nicht können.
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Die zwei Fragen, um die es mir hier geht, lauten also: Was genau heißt Verantwortung? Und wie können wir entscheiden, ob wir in einer bestimmten Situation zu Recht zur Wahrnehmung von Verantwortung aufgefordert werden?
Was heißt Verantwortung?
„Verantwortung“ kommt ursprünglich von „beantworten“. Deshalb wird oft betont, dass die Verantwortung eine dialogische Struktur hat. Das stimmt sicherlich, doch das Besondere der Verantwortung liegt in der kleinen Vorsilbe „ver-“. Diese Vorsilbe ist eine Art Steigerung, Betonung oder Fokussierung. Das funktioniert sehr ähnlich beim „Arbeiten“ im Unterschied zu eine Materie zu etwas „verarbeiten“, Umgebungsgeräusche „hören“ und jemanden zu einem Thema „verhören“, sich den Arm „reiben“ und eine Creme auf dem Arm „verreiben“. In allen diesen Beispielen bekommt die zugrundeliegende Tätigkeit, das Arbeiten, Hören und Reiben, eine konkrete Ausrichtung. In derselben Weise ist die Verantwortung nicht einfach nur ein „Antworten“, sondern eine spezifische Form des Antwortens.
Verantwortung bedeutet, anders gesagt, so viel wie „Für etwas Rede und Antwort stehen“. Verantwortung ist die Fähigkeit oder das Vermögen, Rede und Antwort stehen zu können. Und noch einfacher ausgedrückt, heißt „Verantwortung“, dass sich jemand bei Bedarf erklären kann. Häufig müssen wir uns erklären, wenn etwas Schlimmes passiert ist – daher vermutlich auch der negative Beigeschmack der Verantwortung. Aber wir können uns auch für positive Ereignisse erklären. Bemerkenswerte Fälle von Verantwortung belohnen wir durch Preise, Ehrungen oder andere Auszeichnungen.
Natürlich ist es entscheidend zu wissen, wann wir uns für etwas erklären können müssen – im negativen wie im positiven Sinne.
Wie erkennen wir Verantwortung?
Ich möchte Ihnen eine Art Werkzeug für Situationen der Unsicherheit an die Hand geben. Denn es müssen einige Kriterien erfüllt sein, damit wir in einem gegebenen Moment gerechtfertigt von Verantwortung sprechen können. Genau genommen sind es fünf Bedingungen, die Sie nutzen können, um eine Situation mit Blick auf mögliche Verantwortungszuschreibungen hin zu befragen.
Subjekt der Verantwortung: das Wer
Wir brauchen immer jemanden, der Verantwortung trägt. Das kann ein einzelner Mensch, eine Gruppe von Menschen oder eine Einrichtung sein. Verantwortung kann geteilt werden und sie kann unterschiedliches Ausmaß haben. Manche Menschen tragen mehr, manche weniger Verantwortung. Eine Gruppe kann als Ganzes verantwortlich gemacht werden, obwohl einzelne Mitglieder der Gruppe nur eine Teilverantwortung haben.
Objekt der Verantwortung: das Was
Wir tragen Verantwortung für Handlungen und Handlungsfolgen. Selbst wenn es so aussieht, als würden wir für Ereignisse verantwortlich gemacht werden (wie die gelungene Weihnachtsfeier), für Personen (zum Beispiel das Wohlergehen eines Kindes) oder Gegenstände (beispielsweise eine wertvolle Vase, auf die wir aufpassen). Es sind doch immer bestimmte Handlungen, die von uns erwartet werden. Die Handlungen können bereits geschehen sein (etwa im Falle eines Diebstahls) oder noch in der Zukunft liegen (wie im Falle einer uns anvertrauten Person).
Instanz der Verantwortung: das Wovor
Ein Kontext, in dem es um Verantwortung geht, braucht immer auch eine Autorität, vor der wir uns erklären können müssen. Manchmal handelt es sich dabei um eine innere Instanz wie etwa unser individuelles Gewissen. In anderen Fällen ist es eine äußere Autorität wie zum Beispiel eine Person, für die wir arbeiten, oder ein Gericht. Diese Autoritäten können unser Tun sanktionieren, indem sie uns bestrafen. Manche Menschen berufen sich auch auf übergeordnete Instanzen wie etwa Gott, die Natur oder die Geschichte.
Grund der Verantwortung: das Warum
Sie kennen vielleicht den Spruch „Wo kein Kläger, da kein Richter“? Jeder Kontext, in dem es um Verantwortung geht, braucht einen Grund, der die Verantwortungszuschreibung rechtfertigt. Ist etwa ein Diebstahl geschehen, wird jemand zur Verantwortung gezogen, da es eine Person gibt, die bestohlen wurde und weil Diebstahl in unserer Gesellschaft eine zu sanktionierende Norm darstellt. Die bestohlene Person gibt den Grund dafür ab, jemanden für den Diebstahl zu bestrafen.
Normen der Verantwortung: das Inwiefern
Es gibt sehr viele unterschiedliche Verantwortlichkeiten. In unserem Alltag spielen moralische Verantwortlichkeiten eine große Rolle. Aber es gibt auch wichtige rechtliche, soziale, politische, ökonomische, religiöse oder ästhetische Verantwortlichkeiten. Wir tragen immer zugleich mehrere Verantwortlichkeiten. Sie überschneiden sich zum Teil und manchmal widersprechen sie sich sogar. Zur Differenzierung zwischen all diesen Verantwortlichkeiten nutzen wir Normen mit jeweils unterschiedlicher Gültigkeit und Reichweite. Rechtliche Verantwortlichkeiten lassen sich meist einigermaßen klar über die Normen des Strafgesetzbuches festlegen. Bei den moralischen Verantwortlichkeiten ist es schon deutlich schwieriger. Denn hier können wir uns für gewöhnlich nicht auf offizielle Normkataloge berufen, sondern lediglich auf persönlich Werte.
Sollten Sie sich einmal fragen, ob Sie zu Recht zur Wahrnehmung von Verantwortung aufgefordert werden, kann es hilfreich sein, diese fünf Kriterien durchzugehen. Vielleicht stellen Sie dann fest, dass es Konflikte zwischen zwei Bedingungen gibt oder dass eine Bedingung gar nicht definiert werden kann. Das könnte einen guten Grund abgeben, die Zuschreibung von Verantwortung auch mal zurückzuweisen. In jedem Fall sollten Sie auf diese Weise mehr Klarheit mit Blick auf das Verständnis einer jeweiligen Situation erlangen. Das wiederum führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu mehr Handlungssicherheit und Selbstvertrauen.
Im Spannungsfeld – Verantwortung in der sozialen Arbeit
Welche Verantwortung wir alle für uns, unsere Mitmenschen, unsere Umwelt tragen, hat nicht zuletzt die Coronapandemie drastisch verdeutlicht. Schmerzhaft haben wir erfahren, wie sehr die Ausbreitung des Virus vom Verhalten jeder und jedes einzelnen abhängig ist. Und wie schwer es fällt, persönliche Bedürfnisse hintenanzustellen, um das Wohl der Gemeinschaft nicht zu gefährden. Verantwortung ist aber nicht nur ein persönliches Thema. Welche Dimensionen der Begriff speziell in der sozialen Arbeit hat, erläutert Bernhard Preusche, promovierter Theologe und bis Februar 2021 Leiter der Stabsstelle Ethik in der Stiftung Liebenau.
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„Wer ist für wen oder was vor einem anderen aus welchen Gründen verantwortlich?” So lautet die zentrale Grundfrage aus Sicht des Ethikers. Diese Frage ist geeignet, die unterschiedlichen Facetten des Verantwortungsbegriffs systematisch zu erfassen. Zunächst ist jeder Mensch vor sich selbst und seinem Gewissen verantwortlich, so Dr. Preusche. Das sei die Ebene der moralischen Verantwortung. „Und wir wissen, wie schnell wir manchmal dabei sind, der Verantwortung auszuweichen”, sagt Dr. Preusche. Und den Kaffee-to-go im Einwegbecher nehmen, obwohl wir die Umweltbelastungen durch Müll kennen. Drastischere Beispiele sind dort zu sehen, wo Menschen bewusst wegschauen, um die Not anderer nicht wahrnehmen zu müssen.
Daneben ist im beruflichen Kontext aus Sicht des Ethikers vor allem die rechtliche Verantwortung relevant, die Menschen in ihren Berufsrollen tragen. Der Heilerziehungspfleger ist in seiner Rolle verantwortlich für seine Klientinnen und Klienten, die Geschäftsführerin für ihr Unternehmen, der Vorstand für den Fortbestand der Stiftung. Auch politische Verantwortung fällt in diesen Bereich: Wenn die Stiftung sich beispielsweise dafür einsetzt, dass bei Gesetzesreformen die Interessen ihrer Klientinnen und Klienten angemessen berücksichtigt werden.
Corporate Social Responsibility
Derzeit besonders im Fokus steht der Begriff der sozialen Verantwortung, die vor allem Unternehmen wahrnehmen sollen. Der Begriff der Corporate Social Responsibility, kurz CSR, umfasst die Verantwortung einer Organisation für die Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf die Gesellschaft und die Umwelt. Gemeint sind zum einen soziale Standards, die Verantwortung als Arbeitgeber gegenüber Mitarbeitenden etwa, beispielsweise wenn es um gerechte Entlohnung geht oder um die Sicherheit und Gesundheit ihrer Mitarbeitenden. Soziale Verantwortung eines Unternehmens wird auch daran gemessen, welchen Beitrag es zum Gemeinwohl leistet. Schließlich werden die ökologischen Standards einer Organisation, etwa im Umgang mit natürlichen Ressourcen, betrachtet.
In der sozialen Praxis geht es häufig um die Auseinandersetzung mit Verantwortung. „Meist taucht der Begriff auf im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Fürsorge”, so Dr. Preusches Erfahrung. Einerseits gilt es, den Menschen, die in der Stiftung Liebenau betreut und gepflegt werden, möglichst viel Freiheit und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Dieser persönlichen Autonomie stehen aber teilweise Schutz- und Fürsorgeansprüche entgegen. Wenn ein Bewohner unbedingt in seinem Zimmer rauchen will, aber immer häufiger dabei einzuschlafen droht und so erhöhte Brandgefahr besteht. Wenn eine Bewohnerin eine notwendige medizinische Behandlung verweigert. Oder wenn jemand am Lebensende bewusst alle Nahrung ablehnt. Solche Dilemma-Situationen sind herausfordernd für die betroffenen Teams – und sie fordern den Ethiker. Mit einer Reihe von Instrumenten bietet die Stabsstelle Ethik Hilfe an.
Ethische Hilfe in der Praxis
Zahlreiche Stellungnahmen und Handreichungen wurden zusammen mit dem Ethikkomitee der Stiftung Liebenau er arbeitet, zur Unterstützung der Elternschaft von Menschen mit Behinderungen ebenso wie zum freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit und zur Sterbebegleitung. Das interdisziplinäre Gremium setzt sich zusammen aus Vertreterinnen und Vertretern von Pflege, Pädagogik, Medizin, Jura, Theologie und Ethik. Seine Stellungnahmen münden regelmäßig in Handlungsempfehlungen, die konkrete Hilfestellung geben sollen, Verantwortung zu übernehmen. Um ethische Fragestellungen für Mitarbeitende in der Praxis handhabbar zu machen, werden außerdem verschiedene Fortbildungen angeboten.
Ethische Fallbesprechungen richten sich an Teams in speziellen Dilemma-Situationen. „Eine ethische Fallbesprechung ist das praktischste Instrument, um systematisch neue Handlungsoptionen in einer verfahrenen Situation zu finden”, so Dr. Preusche. Das Konzept basiert auf dem medizinethischen Konzept von Tom L. Beauchamp und James F. Childress, zwei Medizinethikern aus den USA.
Um ethische Fragen in einem größeren Kontext zu bearbeiten, hat sich die die Stiftung Liebenau mit acht Sozialunternehmen zum Kooperationskreis Ethik zusammengeschlossen. Neben einem regelmäßigen Austausch werden auf Fachtagen und in Inhouse-Fortbildungen aktuelle ethische Schwerpunktthemen behandelt.
Zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge
Notruf-Klingelknopf, Badewannen-Lifter, GPS-Systeme: Auch in der Pflege wird immer häufiger über Technik gesprochen. Während die erstgenannten Hilfsmittel schon lange zur Ausstattung unserer Häuser der Pflege gehören, wird über den Einsatz von GPS-Systemen in der Fachwelt noch diskutiert. Derartige technische Möglichkeiten haben eine neue ethische Qualität. Sie betreffen stärker die menschliche Person, nehmen Einfluss auf Selbstbestimmung, Fürsorge- und Beziehungsstrukturen. Eine totale Verweigerung gegenüber technischen Hilfen ist ebenso wenig sinnvoll wie die naive Übernahme sämtlicher Angebote. Vielmehr bedarf jedes Gerät und jedes Verfahren, das als Hilfe zur Pflege ins Spiel gebracht wird, der Prüfung auf seine Chancen und Gefahren.
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Heiner Franzka* ist 68 Jahre alt. Wegen seiner Demenz lebt er seit kurzem in einem Haus der Pflege. Der schlanke, bewegungsfreudige Mann liebt die Natur und nutzt jede Gelegenheit zu ausgedehnten Spaziergängen im nahegelegenen Wald. Immer häufiger müssen ihn die Pflegekräfte dort suchen und ins Haus zurückholen. Ihm gefällt das überhaupt nicht, entsprechend aggressiv werden seine Reaktionen. In einer Fallbesprechung zwischen Familienangehörigen, Pflegeteam und einer Fachärztin kommt der Vorschlag auf, ihm mittels GPS-Gerät mehr sicheren Bewegungsraum zu ermöglichen.
Auf so einem GPS-Gerät, das er um den Hals oder am Handgelenk tragen könnte, würden bestimmte räumliche Bereiche festgelegt. Nur bei Überschreiten dieser so genannten Korridore würde via Haustelefon ein Signal an die Pflegekräfte gesendet. Die Pflegekräfte könnten Heiner Franzka, der gerade seinen Korridor verlassen hat, ausfindig machen und sich um ihn kümmern. Die Ehefrau zögert: Würde ihr Mann, der immer sehr auf seine persönliche Freiheit bedacht war, eine solche „Überwachung” richtig finden? Und was ist dabei mit dem Datenschutz? Um den Vorschlag nach ethischen Gesichtspunkten zu prüfen und zu bewerten, hat das Ethikkomitee der Stiftung Liebenau sechs Thesen formuliert.
Technik in der Pflege soll der Lebenserhaltung und Lebensentfaltung dienen
Zweck technischer Hilfsmittel ist, die vielen Seiten menschlichen Lebens zu erhalten und zu entfalten. Eine Vielzahl von Gegenständen hat heute zum Ziel, das Dasein von Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, zu erleichtern. Also zum Beispiel Schmerzen und Schäden zu vermeiden, Selbstbestimmung hinsichtlich Kommunikation, Mobilität, Wohnen weitestgehend zu erhalten und zu ermöglichen, zur Verfügung stehende Ressourcen angemessen einzusetzen. Das GPS-System würde diesem Zweck dienen, da es Schäden u vermeiden hilft, die bei Orientierungslosigkeit entstehen könnten, zum Beispiel ein Unfall auf befahrener Straße, ein Verlaufen in der Stadt oder im Wald. Der individuell bestimmbare Korridor bietet einen geschützten Raum der Entfaltung für gefährdete Personen, hier für Heiner Franzka. Ein ängstliches Festhalten der Person und Einschränken der Mobilität wird überflüssig.
Technik in der Pflege darf Menschen nicht aus ihrer Mitverantwortung gegenüber ihren Mitmenschen entlassen
Viele pflegerische Aufgaben können nicht von technischen Hilfsmitteln erledigt werden. Zu wendung, Einfühlungsvermögen und Kreativität sind erforderlich, um der gegenseitigen mitmenschlichen Verantwortung zu entsprechen. Diese Mitverantwortung insbesondere der Pflegekräfte und Angehörigen wird durch ein GPS-System nicht aufgehoben, da die Korridore individuell festzulegen sind. Zudem wird ein persönliches Eingehen auf die Lage der betreffenden Person notwendig, wenn ein Signal durch das Überschreiten des personenspezifischen Korridors ausgelöst worden ist. Denkbar wäre zum Beispiel, dass ihn die Pflegekraft beim Zusammentreffen freundlich anspricht und zu einem gemeinsamen Spaziergang im Hausgarten einlädt.
Technik sollte passgenau dem geforderten Hilfebedarf entsprechen
Es ist stets zu prüfen, ob die eingesetzte Technik die erforderliche Unterstützung bietet oder ob nicht ein anderes technisches Hilfsmittel geeigneter ist. Etwa weil es einfacher zu bedienen ist oder weniger Risiken birgt. Ein Beispiel: Die bisher häufig verwendeten Bettgitter, die ein nächtliches Herausfallen vermeiden sollen, werden immer häufiger durch so genannte Niederflurbetten ersetzt, bei denen die Verletzungsgefahr geringer, die Bewegungsfreiheit aber größer ist. GPS-Tracker sollten nur bei Menschen mit einer so genannten Hinlauftendenz eingesetzt werden, wenn also die Gefahr besteht, dass sie sich verirren. Passgenau sind sie dann, wenn der Bewegungskorridor individuell festgelegt werden kann und die Befestigungsmöglichkeiten für die jeweilige Person angepasst werden können.
Jeder Technikeinsatz sollte im Blick auf seine Folgen für die Betroffenen vorsichtig bewertet werden
Der Einsatz technischer Mittel bedarf immer auch einer Technikfolgenabschätzung nach dem Vorsichtigkeitsprinzip. Da die Sicherheit durch GPS-Systeme steigt, ist prinzipiell eine gewisse Entlastung von Mitarbeitenden und Angehörigen zu erwarten. Vorsichtshalber muss allerdings ein Ausfall der Technik mitbedacht werden und etwa ein Namensschild mit Telefonnummer zusätzlich angebracht werden. Vorsicht ist besonders geboten, was den Umgang mit Daten angeht. Hier ist hohe Sensibilität und genaue Dokumentation gefordert, die permanente Speicherung der Aufenthaltskoordinaten ist zu unterbinden.
Technikeinsatz in der Pflege verlangt eine intensive Auseinandersetzung mit der Autonomie der zu pflegenden Person und pflegerischen Notwendigkeiten
Technik soll einerseits eine Unterstützung sein. Sie wirkt andererseits aber auch überwältigend und undurchsichtig. Die zu Pflegenden sind häufig weniger als andere in der Lage, die technischen Produkte zu verstehen und über Zustimmung oder Ablehnung zu entscheiden. Dies betrifft vor allem den Bereich der Medizinethik, wenn es um technische Fragen in der Behandlung der Patienten geht. Insofern sollte Technik nicht gegen den Willen einer pflegebedürftigen Person eingesetzt werden, die zuvor umfassend informiert worden ist. Wo es jedoch zu physisch oder psychisch schwer zumutbaren Lebenssituationen beteiligter Personen kommt, muss eine Auseinandersetzung mit der Autonomie der zu pflegenden Person und den pflegerischen Notwendigkeiten stattfinden.
Herr Franzka sollte also über die Funktion und den Zweck des GPS-Senders informiert werden und mit dem Anlegen einverstanden sein. Die Pflegekräfte sind dann in einer besonderen Verantwortung, wenn er das Tragen des GPS- Senders einmal ablehnt, obwohl es grundsätzlich mit den Angehörigen vereinbart ist. Hier müssen die Fragen beantwortet werden: Wie viel Schaden entstünde für alle Beteiligten, wenn der GPS-Sender nicht getragen wird und Herr Franzka dann gegebenenfalls zu Hause bleiben muss? Gibt es im Einzelfall Alternativen, etwa gemeinsames Spazierengehen? Lässt er sich vom Tragen des GPS-Senders überzeugen? GPS-Sender haben nicht den Zweck einer elektronischen Fußfessel.
Technik in der Pflege ist individuell in die Spannungsfelder „Freiheit und Schutz” und „Selbst- bestimmung und Fürsorge” einzuordnen
Am Einsatz der GPS-Geräte wird deutlich, worin generell die ethische Ambivalenz techni scher Innovationen in der Pflege besteht: Sie sollen die Fürsorge und den Schutz von Menschen mit Hinlauftendenz erhöhen, indem sie rechtzeitig Alarm geben, wenn jemand den ihm vertrauten und für ihn vorgesehenen Korridor verlässt. Außerdem ermöglichen sie Bewegungs freiheit und Teilhabe, die ansonsten nur durch unverhältnismäßig hohen und häufig nicht vorhandenen Zeit- und Personaleinsatz erreicht werden könnten. Nötig ist allerdings, immer wieder zu überprüfen, ob der festgelegte Korridor noch dem Fürsorge- und Schutzgedanken einerseits und dem Freiheits- und Teilhabegedanken andererseits entspricht.
Ein Ausbildungszentrum, das verbindet
Das Regionale Ausbildungszentrum Ulm (RAZ) zählt nicht unbedingt zu den ersten Sehenswürdigkeiten der Münsterstadt. Betritt man aber das Haus in der Schillerstraße, merkt man schnell: Von Schattendasein kann in und um die Einrichtung für junge Menschen mit Förderbedarf keine Rede sein. Die Verantwortlichen um Einrichtungsleiter Johannes Hettrich haben verstanden, dass sie nur sichtbar werden, wenn sie offen auf ihr Umfeld zugehen, Netzwerke knüpfen und sich engagieren. Und genau das tun sie auf vielfältige Weise in Verbänden, Aktionsbündnissen oder mit eigenen Projekten, die weit über die Stadtgrenze hinaus ihre Wirkung entfalten.
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„Als wir hier vor gut 22 Jahren unsere Arbeit aufgenommen haben, stand zuerst viel Überzeugungsarbeit bei den Handwerksbetrieben an”, erinnert sich Johannes Hettrich. Der Gedanke, dass Menschen mit Einschränkungen bei richtiger Förderung auch einen Platz am ersten Arbeitsmarkt einnehmen können, war ungewohnt. Heute melden sich die Handwerker aus der Region im RAZ, um sich nach fähigen Leuten umzuhören. Das liegt nicht nur am allgegenwärtigen Fachkräftemangel, sondern vor allem an der Art und Weise, wie die Verantwortlichen des RAZ als Gastmitglied der Handwerksinnungen informiert und immer wieder den persönlichen Kontakt in die Unternehmen gepflegt haben.
Davon profitieren insbesondere die Azubis, die in Ulm in sechs klassischen Handwerken ausgebildet werden, die bereits auf der „Roten Liste der bedrohten Ausbildungsberufe” stehen. Allen voran das Bäckerhandwerk, das in der hauseigenen Bäckerei gelehrt wird. Seit 2012 sind die Bäcker-Azubis des RAZ fester Bestandteil des „Ulmer Brot-Kultur-Festes”, das vom Museum der Brotkultur veranstaltet wird. Hier zeigen sie nicht nur ihr Können im Brezeldrehen und Teiganrühren, das Verkaufsteam bringt die frisch gebackenen Produkte auch gleich an die Frau und den Mann. Ähnliche Aktionen gibt es auch in anderen Gewerken: Als die Metzgerinnung Ulm sich im Jahr 2016 den Leberkäs-Weltrekord holte, waren Azubis aus dem RAZ mit von der Partie.
Auf diese Weise in der Öffentlichkeit zu stehen, zahlt nicht nur auf das Image der Einrichtung ein. „Es stärkt unsere Jugendlichen ungemein in ihrem Selbstbewusstsein, zu sehen: Hey, wir können ja richtig was!”, sagt Hettrich. Dass sich der Einsatz lohnt, zeigt sich an der Prominenz der Kunden. So durften schon die Fantastischen Vier in den Genuss eines RAZ-Caterings kommen, als sie im benachbarten Kulturzentrum Roxy zu Gast waren. Unnötig zu erwähnen, dass das Roxy zu den langjährigen Kooperationsbetrieben zählt.
Nachhaltigkeit und schonender Umgang mit Ressourcen
Ein Thema, das im Kontext der Lebensmittelverarbeitung natürlich nicht fehlen darf, ist Nachhaltigkeit und schonender Umgang mit natürlichen Ressourcen. Lange bevor „Fridays for Future” in aller Munde war, ist das RAZ zum offiziellen Partner der Fairtrade-Stadt Ulm geworden. Dafür werden im Bäckereiverkauf verschiedene fair gehandelte Produkte angeboten oder weiterverarbeitet. Das Ausbildungsteam wollte die Kriterien jedoch bewusst etwas weiter fassen, als es die Macher von „Ulm handelt fair” vorgeben. Seither wird das Mehl von einem Müller aus Ehingen bezogen, Obst und Gemüse liefert ein Bauer aus Söflingen und alle To-Go-Produkte werden in Mehrweggeschirr angeboten. „Wir möchten aber nicht nur Plastikmüll vermeiden, sondern insbesondere auch keine Lebensmittel wegwerfen, deshalb spenden wir übriggebliebene Backwaren gerne an die Ulmer Tafel”, ergänzt Hettrich.
Hier setzte im Jahr 2020 ein Projekt an, das Bildungsbegleiter Olaf Schrader gemeinsam mit vier Auszubildenden gestalten durfte: „Future everyday for everyone” – ein inklusives Medien- und Wirtschaftsprojekt, so der vielversprechende Titel. „Uns ging es einerseits darum, bei den Jugendlichen ein generelles Bewusstsein für Nachhaltigkeit zu schaffen, ihnen aber auch etwas Orientierung in einer widersprüchlichen Welt zu geben”, sagt Schrader. So bestand der kommunikative Teil des Projekts vor allem darin, komplexe Zusammenhänge, zum Beispiel in Bezug auf den Klimawandel, so aufzubereiten, dass auch lernschwächere Mitschülerinnen und Mitschüler die Probleme und Lösungsansätze begreifen können. Die Ergebnisse der Projektgruppe wurden schließlich auf einer digitalen Lernplattform veröffentlicht, die noch den kommenden Schülergenerationen zur Verfügung stehen wird.
Eigenverantwortlich handeln
In Ulm und Umgebung wird also jede Menge getan, um einen guten Eindruck und einen möglichst kleinen CO²- Abdruck zu hinterlassen. Mit dem Projekt „Arbeit für den Frieden”, das im Jahr 2018 erstmals durchgeführt wurde, ging es dann sogar ins europäische Ausland. In Kooperation mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge kümmern sich die Jugendlichen um verwitterte Weltkriegsgräber in Frankreich. Und weil die Themen Krieg und Tod nicht für witzige Tik-Tok-Videos taugen, verarbeiteten sie ihre Erfahrungen und Emotionen später – ganz klassisch – in Gedichten und Zeichnungen. Projekte wie dieses sind nicht unbedingt an die klassischen Ausbildungsinhalte angelehnt, sie tragen jedoch maßgeblich dazu bei, die Teilnehmer in ihrer persönlichen Entwicklung zu fördern und sich, besonders nach der Ausbildung, nicht mit einem Schattendasein zufrieden zu geben. „Unseren Erfolg messen wir daran, dass die Jugendlichen ihr eigenes Leben soweit wie möglich eigenverantwortlich gestalten können”, sagt Hettrich. „Das geht manchmal holprig und auf jeden Fall in vielen kleinen Schritten. Aber es geht!”


Verantwortung für die Zukunft
Wer wissen will, was nachhaltiges Wirtschaften ist, muss sich den Wald anschauen. Dort wird das Prinzip sichtbar: Es darf nur so viel Holz im Wald geschlagen werden, wie permanent nachwächst. Ursprünglich entwickelt in der Forstwirtschaft, wird der Begriff inzwischen überall dort verwendet, wo es gilt, Bestehendes so zu bewirtschaften, dass es auch in Zukunft nutzbar bleibt. Dabei geht es nicht nur um ökologische Themen, sondern auch um ökonomische und soziale Nachhaltigkeit.
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Der Begriff der Nachhaltigkeit wurde im 18. Jahrhundert in der Forstwirtschaft erstmals formuliert. Er entstand aus der Not, dass zu dieser Zeit die Wälder überregional übernutzt wurden und Holz knapp war. Diese Erkenntnisse prägen die heutige nachhaltige Forstwirtschaft. Auch in der Stiftung Liebenau, deren Forstbetrieb heute rund 1450 Hektar Wald bewirtschaftet, etwa eine Fläche von 2000 Fußballfeldern. „Der Stiftungswald ist eine wichtige Säule des Stiftungsvermögens”, erläutert Markus Bertele, Chef des Forstbetriebs. Er liefert kontinuierlich den klimaneutralen und nachwachsenden Rohstoff Holz, der teilweise auch zur Eigenversorgung der Stiftung Liebenau beiträgt, als Waldhackschnitzel für die Energieversorgung bis zur Bereitstellung von Bau- und Brennholz. Der jährliche Holzeinschlag würde ausreichen, um zum Beispiel den Standort Liebenau komplett zu beheizen. In der Realität wird natürlich nur ein Teil des Holzes zu Brennholz verarbeitet, weitaus mehr wird zu Bauholz.
Der Wald leistet auch einen wertvollen Beitrag zum Klimaschutz. Bei der Photosynthese nehmen Bäume CO2 aus der Luft auf und reduzieren so den CO2-Gehalt in der Atmosphäre. Bertele rechnet vor: „Im Stiftungswald sind momentan 680 000 Tonnen CO2 im Holz gespeichert.” Zum Vergleich: Diese Menge entspricht in etwa dem, was die Einwohner einer Stadt wie Friedrichshafen jährlich produzieren. (Quelle: Statistisches Bundesamt) Wird das Holz verarbeitet, bleibt das CO2 gebunden, eventuell über Jahrhunderte. Zudem bietet der struktur- und baumartenreiche Mischwald der Stiftung Liebenau Lebensraum für viele Tier- und Pflanzenarten und dient den Menschen als Erholungsraum. Und er schafft vielseitige Arbeitsplätze für Menschen mit und ohne Behinderungen.
Umweltschutz aktive Aufgabe der Stiftung Liebenau
Mit ihrem Forstbetrieb leistet die Stiftung Liebenau also schon einen Beitrag zur Nachhaltigkeit. Für Kurt Metzger, Umweltmanagementbeauftragter der Stiftung, ist es damit aber noch nicht getan: „Unser Ziel ist, mittelfristig CO2-neutral zu sein.” Für den Weg dorthin haben sich Vorstand und Geschäftsführungen nun auf Umweltleitlinien verständigt. Sie wollen damit den Umweltschutz aktiv in die Aufgaben der Stiftung Liebenau integrieren und innovativ umsetzen. „Natürlich gab es bei uns bisher schon viele Initiativen zur Reduktion unserer Umweltbelastungen”, weiß Metzger. Mit dem Aufbau eines Umweltmanagements werden diese jetzt systematisiert. Erster Schritt ist eine strukturierte Erfassung der Verbrauchsdaten. „Wenn wir den Verbrauch kennen, können wir Verbesserungspotentiale besser erkennen, sie projektieren und dann auch konkret umsetzen.” Dabei geht es nicht nur um Heizenergie. Der Umweltmanagementbeauftragte muss auch Bereiche wie Bau, Fahrzeugflotte und Materialverbrauch, aber auch die Biodiversität, also den Schutz der Artenvielfalt, im Blick haben. „In einigen Bereichen machen wir schon gute Erfahrungen mit Elektromobilität, aber da liegt noch ein weiter Weg vor uns.” Bei der Einführung des Umweltmanagementsystems wird sich die Stiftung Liebenau an der Europäischen Verordnung für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung EMAS orientieren.
Klar ist allen Beteiligten auch: Umweltschutz ist nicht kostenlos zu haben. „Die Vereinbarung von wirtschaftlichen Grundsätzen mit ökologischen Anforderungen stellt hierbei für uns eine besondere Herausforderung dar”, heißt es in der Präambel der Leitlinien. Der Stiftung Liebenau steht ein spannungsreicher Balanceakt bevor.
Interview: Stiftungen – ein starker Teil der Zivilgesellschaft
Stiftungen haben Konjunktur. Allein in Deutschland gibt es rund 23000 rechtsfähige Stiftungen bürgerlichen Rechts, große und kleine, alte und junge. Und jedes Jahr werden neue gegründet, 712 waren es im Jahr 2020. Was macht diese Rechtsform so attraktiv? Was sind ihre Besonderheiten? Und welche Bedeutung haben Stiftungen für die Gesellschaft? Ein Gespräch mit Friederike von Bünau, Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen.
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Frau von Bünau, zunächst mal ganz allgemein gefragt: Was unterscheidet Stiftungen von anderen Organisationen und Unternehmen?
Friederike von Bünau: Im Grunde basieren Stiftungen auf einer einfachen und gleichzeitig radikalen Idee: Da gibt jemand sein Geld aus der Hand und widmet es einem definierten Zweck. Aus der Stifterautonomie wird damit eine Stiftungsautonomie. Die Stiftung gehört sich selbst, sie ist weder der politischen Willensbildung noch irgendwelchen Eigentümer- oder Aktionärsinteressen unterworfen, sondern nur ihrem Zweck verpflichtet. Der wiederum ist in der Regel für die Ewigkeit festgelegt, unterliegt also auch nicht den Wandlungen des Zeitgeistes. Schauen Sie die vielen alten Stiftungen in Deutschland an, die funktionieren immer noch. Stiftungen haben – gerade aufgrund ihrer Autonomie – große Freiheit. Sie können im Rahmen ihrer Satzungszwecke Neues ausprobieren, Mittel bereitstellen für Innovationen oder besondere Forschungsvorhaben. Aber diese Freiheit ist mit Verantwortung verbunden.
Worin liegt diese besondere Verantwortung?
Friederike von Bünau: Gemeinnützige Stiftungen, das sind etwa 95 Prozent, sind steuerbegünstigt. Schon deshalb tragen sie eine besondere Verantwortung. Sie müssen mit ihrem Geld so umgehen, dass es dem Gemeinwohl dient. Sie sind Teil der Gesellschaft – das ist es übrigens, was die Stifterinnen und Stifter in der Regel motiviert: Sie wollen die Gesellschaft mitgestalten.
In der Geschichte waren Stiftungen meist Initiativen Einzelner: wohlhabende Menschen, die der Gesellschaft etwas zurückgeben und ihre Impulse setzen wollten. Inzwischen spielen Kooperationen mit Kommunen, Unternehmen, anderen Akteuren der Zivilgesellschaft eine deutlich größere Rolle. Oder schauen Sie zum Beispiel die Bürgerstiftungen an, eine recht junge Entwicklung in der Stiftungslandschaft. Bürgerinnen und Bürger wollen am demokratischen Zusammenleben in ihrer jeweiligen Stadt mitwirken. Da ist weniger das Geld das Entscheidende, sondern vielmehr ehrenamtliches Engagement und Ideen.
Diese Idee, Stiftungen als Teil der Zivilgesellschaft zu denken, ist angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen – auch auf europäischer Ebene – wichtig, um sich gegenseitig zu stärken.
In seinen Grundsätzen guter Stiftungspraxis legt der Bundesverband einen besonderen Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Was heißt das konkret?
Friederike von Bünau: Die Grundsätze guter Stiftungspraxis waren ursprünglich vor allem auf Managementthemen wie Transparenz oder den Umgang mit Interessenskonflikten bezogen. Vor zwei Jahren hat der Bundesverband sie um Positionen zu gesellschaftspolitischen Themen erweitert, darunter auch zur nachhaltigen Entwicklung – orientiert an der UN-Agenda 2030 und am Pariser Klimaschutzabkommen. Wir sind im Verband der Meinung, dass es an der Zeit ist, sich zu diesen Themen zu positionieren. Diese Grund- sätze sind keine Vorschriften, es sind Vorschläge zur freiwilligen Selbstverpflichtung. Jede Stiftung entscheidet für sich, ob und wie sie sie mit Leben füllt.
Nicht nur die Coronapandemie hat das Jahr 2020 geprägt, sondern politische und humanitäre Krisen weltweit. Wie können Stiftungen zu einer gerechteren und friedlicheren Welt beitragen?
Friederike von Bünau: Jede nach ihren Möglichkeiten in ihrem Umfeld, würde ich sagen. Es gibt die prominenten, international tätigen Stiftungen. Doch es müssen nicht immer die großen Taten sein. Wir können unseren Teil beitragen, wenn wir uns selbst überprüfen: Leben wir das, was wir für die Welt wollen, in unserer Organisation, unserem Umfeld? Das kann sich mit Blick auf das Thema Nachhaltigkeit auf den Umgang mit natürlichen Ressourcen beziehen, oder darauf, ob eine Stiftung ihr Stiftungsvermögen nach ethischen Grundsätzen anlegt.
Danke für das Gespräch, Frau von Bünau.
Protokoll einer Ethischen Fallbesprechung
Selbstbestimmung ermöglichen, Wünsche respektieren, Teilhabe fördern. Sonst noch was? Die Ansprüche, die Menschen in sozialen Berufen an sich und ihre Arbeit stellen, sind hoch. Aber was ist, wenn die Selbstbestimmung ihrer Klienten zur Selbstgefährdung führt? Wenn die Kommunikation begrenzt, die Kraft zur Empathie erschöpft ist? Um in solchen verfahrenen Situationen systematisch neue Handlungsoptionen zu finden, kann eine Ethische Fallbesprechung (EFB) helfen. Bernhard Preusche, bis Februar 2021 Leiter der Stabsstelle Ethik in der Stiftung Liebenau hat eine solche EFB protokolliert.
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Die Geschichte von Herrn F. ist schnell erzählt: Der 49-Jährige wohnt seit drei Jahren in einem ambulant betreuten Appartement. Er darf offiziell eine Katze halten, füttert allerdings regelmäßig mehrere Katzen, die in seiner Wohnung ein- und ausgehen. Er kann sich nur schwer von Dingen trennen. Wohnung und Keller quellen über: Kleidung, schimmelnde Nahrungsvorräte, allerlei Fundstücke. Schmutziges Geschirr stapelt sich in der Küche, Müll und Katzenstreu versperren den Weg auf den Balkon. Seine gesundheitliche Verfassung ist schlecht, er hat Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck und verschiedene Hautkrankheiten, die möglicherweise auch mit seiner mangelnden Körperhygiene zusammenhängen. Behandeln lässt Herr F. sich nicht. Es sei sein Leben, meint er, er ließe sich nicht hineinreden. Von seinen medizinischen Prognosen – erhöhtes Schlaganfall- und Herzinfarktrisiko – bleibt er unbeeindruckt: „Wir müssen alle irgendwann sterben.”, sagt er. Gleichzeitig klagt er darüber, dass sich niemand um ihn kümmere.
Verantwortung versus Überlastung
Für die Mitarbeitenden des ambulanten Dienstes ist Herr F. in seiner Wohnung nicht mehr auszuhalten. „Das ist doch nicht mehr menschenwürdig. Wir müssen da Verantwortung übernehmen! Außerdem sind die Belastungsgrenzen meiner Mitarbeitenden erreicht: Immer wieder ist Herr F. Thema im Team und wir kommen nicht weiter”, meint die Leitung am Telefon des Ethikers, um eine Ethische Fallbesprechung (EFB) anzufragen. Der Ethiker nickt. Er hat prinzipiell ein offenes Ohr, wenn Mitarbeitende vom schwierigen Umgang mit ihrer Klientel berichten. Im Gespräch mit dem Anrufer wird geklärt, ob Autonomie, körperliche und emotionale Gesundheit, Fürsorge oder Gerechtigkeit bei dem konkreten Anliegen eine Rolle spielen. Wenn einer der Werte eingeschränkt ist oder mit einem anderen in Konflikt steht, kann eine EFB einberufen werden. Bei den Berichten, die der Ethiker hört, ist das meistens der Fall.
Prinzipien im Rundumblick
Am Tag der EFB stehen Getränke und Gebäck im Besprechungsraum der Ambulanten Dienste bereit. „Ich mag Süßes”, denkt der Ethiker. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde wird die „Sorge” um Herrn F. von allen beleuchtet: Hausärztin und Psychologe, Bezugsbegleiter, gesetzliche Betreuerin, Leitung und pädagogischer Fachdienst bringen ihre Erfahrungen mit Herrn F. ein. Es darf emotional werden: „Ich geh nicht mehr in die Wohnung von ihm. Es ekelt mich!”, sagt der Bezugsbegleiter mit erhobener Stimme. Das musste raus. Der Ethiker achtet darauf, dass alle zu Wort kommen. „In einem zweiten Schritt kommen wir zu den ethischen Prinzipien”, leitet der Ethiker den Hauptteil der EFB ein: „Das Autonomieprinzip fragt danach, wie selbstbestimmt oder autonomiefähig Herr F. ist. Können Sie uns dazu aus fachlicher Sicht etwas sagen?”, fragt er den Psychologen. „Herr F. hat eine leichte geistige Behinderung”, beginnt der. „Seine Wünsche äußert er lautstark und situativ, ohne dass er dabei mittelfristige oder langfristige Folgen berücksichtigen kann. Meistens geht es dabei um unmittelbare Bedürfnisbefriedigung, zum Beispiel will er, dass man ihm Süßigkeiten vom Supermarkt mitbringt und solche Dinge.” „Seine Wünsche sind oft von Verlustängsten bestimmt.”, legt der pädagogische Fachdienst dazu. Es kommen noch ähnliche Äußerungen und schließlich stimmen alle dem Satz des Ethikers zu: „Herr F. hat trotz seines starken Autonomiestrebens eine eingeschränkte Autonomiefähigkeit.”
Zum Autonomieprinzip gehört auch die Frage nach den konkreten Wünschen von Herrn F. „Was wünscht er sich noch im Alltag? Wie stellt er sich seine Zukunft vor?”, fragt der Ethiker. „Äußert er manchmal eine Sehnsucht nach mehr Ordnung?” „Das Wichtigste für Herrn F. ist, dass er wahrgenommen wird. Er braucht sehr viel Anerkennung.”, antwortet der Bezugsbegleiter. Die gesetzliche Betreuerin meint: „Wenn ich mit ihm verhandle, muss ich ihm das Gefühl geben, dass er gewinnt. Er braucht das Gefühl von Macht. Außerdem will er finanzielle Sicherheit.” „Er will selbstbestimmt leben”, sagt der Psychologe. „Er sagt, wie schön die Wohnung seiner Exfreundin sei”, berichtet der Bezugsbegleiter. Das Gremium sammelt noch weitere „Autonomie-Objekte”, die der Ethiker am Flipchart mitschreibt.
Das zweite Prinzip ist das Nichtschadensprinzip: „Was schadet Herrn F.?”, fragt der Ethiker in die verblüffte Runde und konkretisiert: „Wo leidet er körperlich oder psychisch? Hat er Schmerzen?” „Der Hautpilz ist ihm unangenehm und bereitet ihm Schmerzen”, sagt die Hausärztin. „Er leidet emotional, wenn die Katzen nicht da sind oder wenn er tote Tiere auf der Straße findet”, so der Fachdienst. Am schlimmsten seien die Verlustängste, darüber sind sich alle einig.
„Wenn Sie sich etwas wünschen dürften für Herrn F.: Was benötigt er aus medizinischer, pflegerischer und pädagogischer Sicht?”, leitet der Ethiker zum Fürsorgeprinzip über. „Er braucht mehr Bewegung!”, kommt es sofort von der Hausärztin. „Eine Psychotherapie seiner Verlustängste”, so der Psychologe. „Respektvolle Konfrontation mit seinen eigenen Grenzen”, meint der Fachdienst. „Alle um ihn herum sollten noch empathischer auf ihn eingehen und ihm das Gefühl der Selbstbestimmung vermitteln. Wenn er mal schimpft, müssen wir das eben aushalten. Ich hab´ dazu keine Kraft mehr”, sagt der Bezugsbegleiter. Der Ethiker hält alles am Flipchart fest.
Da die Zeit fliegt und das belastende Dilemma zwischen Autonomie und Fürsorge offensichtlich geworden ist, bleibt das Gerechtigkeitsprinzip in dieser Runde außen vor.
Wege aus dem Dilemma
„Wenn Sie die Flipcharts zum Autonomie-, Nichtschadens- und Fürsorgeprinzip bei Herrn F. anschauen”, beginnt der Ethiker, „welches Prinzip ist besonders wichtig? Was sollte unbedingt in Handlungsoptionen berücksichtigt werden?” Es meldet sich die Leitung: „Herr F. wird sich nicht einfach ändern. Das Fürsorgeprinzip, also Empathie, Aushalten, respektvolle Konfrontation, und die Tatsache, dass mein Mitarbeiter keine Kraft mehr für Herrn F. hat, bringt mich zu der Überlegung, die Bezugsbegleitung zu wechseln.” Der aktuelle Bezugsbegleiter wirkt erleichtert. „Wie könnte das genau passieren?”, fragt der Ethiker. „Ich werde mit meinen Mitarbeitenden sprechen, wer bereit ist, die Begleitung von Herrn F. zu übernehmen.”
„Sehen Sie noch andere Handlungsoptionen?”, so der Ethiker in die Runde. „Herr F. mag Tiere und braucht Bewegung. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, das nahe Tierheim einzubeziehen, indem Herr F. zum Beispiel mit Hunden Gassi geht. So hätte er mehr Bewegung.” Die Idee finden alle gut und die Bezugsbegleitung wird Kontakt zum Tierheim aufnehmen. Die Hausärztin schlägt vor, Herrn F. eine Reha schmackhaft zu machen: „Urlaub mit Freizeit- und Sportangeboten.” „Um einmal wieder Ordnung in die Wohnung zu bringen, könnte auch eine Grundrenovierung notwendig werden.”, meint schließlich die Leitung mit einem verschmitzten Lächeln. „Ich könnte mich mit einer externen Gutachterin bei Herrn F. anmelden.”
Gelungene Hilfe zur Selbsthilfe
In der Abschlussrunde ist allen die Erleichterung darüber anzumerken, dass sich konkrete Handlungsoptionen entwickelt haben: „Es war gut, die Situation um und mit Herrn F. von allen Seiten anzuschauen”, bedankt sich die gesetzliche Betreuerin. „Vielen Dank für Ihre rege Beteiligung. Sie bekommen ein Protokoll dieser EFB, das Sie ergänzen dürfen.” Der Ethiker fährt in sein Büro mit dem guten Gefühl, einem Team zur Selbsthilfe verholfen zu haben.
Wertschätzung und Vertrauen = Basis für zufriedene Mitarbeitende
Um eine gute Betreuung im solidarischen Miteinander zu gewährleisten, braucht es Fachwissen, Empathie sowie viele neue Ideen, und das rund um die Uhr. Träger dieser Ressourcen sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Damit sie ihre Potenziale zum Wohle der von ihnen betreuten Menschen und gemeinsam im Team entfalten können, müssen sie sich selbst sicher, anerkannt und wohl fühlen. Wie das der Liebenau Österreich gelingt, beschreiben Verantwortliche und Mitarbeitende.
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Für die österreichische Tochter der Stiftung Liebenau stehen eine wertschätzende Grundhaltung und gegenseitiges Vertrauen im Fokus der Unternehmenskultur. „Zwei Haltungsansätze, die auf allen Ebenen für eine energiereiche und gute Zusammenarbeit nötig sind”, sagt Dr. Dennis Roth, Leiter der Qualitätsentwicklung. „Beide haben sich als beste Grundlage für ein verantwortungsvolles Management erwiesen.” Im Corona-Krisenjahr hat sich die Zusammenarbeit laut Führungsteam sogar noch intensiviert: Durch den regelmäßigen Austausch wussten alle, wie es den anderen in dieser sich ständig ändernden Situation ging. „So sind unsere rund 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über die einzelnen Häuser hinaus noch einmal enger zusammengewachsen”, freut sich Geschäftsführer Klaus Müller. Regelmäßige Fortbildungen, Supervisionen sowie teambildende Aktionen stützen die bereits gelebte Wertschätzung und geben neue Anreize.
Faire Konditionen
Auch ein faires Gehalt nach den jeweils gültigen Kollektivverträgen der Bundesländer gehört für die Liebenau Österreich zur Wertschätzung. Besondere Leistungen und verantwortungsvolle Positionen oder Aufgaben werden gesondert vergütet. „Wichtig ist uns außerdem, dass unsere Mitarbeitenden Familie und Beruf gut verbinden können”, berichtet der Geschäftsführer. Weil die Liebenau Österreich Teilzeit flexible Arbeitszeitmodelle oder Projekte wie „job & kids” bietet, hat das Land Vorarlberg das Unternehmen als familienfreundlichen Betrieb zertifiziert. „Wir sind sehr dankbar, dass unser Personal die krisenbedingt spontanen Dienstplanänderungen und längeren Arbeitszeiten so engagiert mitgetragen hat. Jetzt können wir hoffentlich bald wieder mehr Rücksicht auf familiäre Belange nehmen – und auch die Sportangebote unseres betrieblichen Gesundheitsprogramms ‚tuat guat’ wieder hochfahren.”