Seitlich streichen für weitere Aufgabenfelder <>

Begegnungen

von Prälat Michael H. F. Brock – Es war im September dieses Jahres. Ich traf nach gefühlten zwei Jahren zum ersten Mal wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Klinik, Teilhabe und Pflege. Fachtage zu Haltungsfragen. Das machen wir regelmäßig, aber im September dieses Jahres zum ersten Mal in der vierten Welle der Pandemie.

 

Wir waren es leid, uns nicht persönlich zu begegnen. Geimpft, genesen, getestet. Und hungrig nach Begegnung. Mir war vollkommen klar, dass meine Themen eher nebensächlich erscheinen mussten inmitten einer Pandemie, die uns bis an den Rand forderte. Unsere Aufmerksamkeit gilt den Menschen, die uns anvertraut sind. Menschen zu schützen, Menschen zu trösten, Menschen zu pflegen, Menschen zu begleiten, Menschen Nähe zu schenken und doch Abstand zu wahren, das erleben wir als Zerreißprobe. 

 

Zum Einstieg legte ich Bilder aus. Auf jedem Bild war Jesus zu sehen. Je nach Epoche der Entstehung waren sie sehr unterschiedlich. Und ich fragte nach Sympathie und Antipathie. Viele Bilder wurden einfach liegengelassen. „Jesus, der gute Hirte“ interessierte nicht. „Der Schmerzensmann am Kreuz“ wurde abgelehnt. „Der König und Herrscher“ blieb links liegen und der „Erlöser der Welt“ ebenfalls. Aufmerksamkeit aber erregte ein Bild und löste Empörung aus. Jesus war zu sehen, wie er in einer Krippe lag. Die Krippe stand im Freien vor einer kleinen Hütte. Jesus halb nackt darin, in Windeln gewickelt, streckte die Hände aus nach seiner Mutter, schreiend. Die aber kniete – wie Josef und die Hirten – vor jener Krippe und hielt ihre Hände zum Gebet verschränkt vor ihrer Brust. „Anbetung“ hieß das Bild und tatsächlich strahlte es eine gewisse Andacht aus. Wäre da nicht das Kind, das wohl vor Hunger schrie oder zu frieren begann in seiner Krippe. Das empörte jene, die es sahen. Und bei genauer Betrachtung zu Recht. Die wohlmeinendsten Gebete helfen nicht, wenn ein Kind hungert oder friert. Eine Reihe anderer Jesusbilder trafen auf hohe Sympathie. Manche schienen kitschig zu sein oder überzeichnet romantisch, aber allen war eigen, dass Jesus den Betrachter aus den Bildern anzuschauen schien. 

 

Ja, die Bilder, in denen Jesus aus den Bildern heraus uns betrachtet, sind die gefragten Jesusbilder dieser Tage. Wir sind auf der Suche nach Menschen. Menschen, die uns wahrnehmen, die uns betrachten, die uns unter die Arme greifen. Menschen sind gefragt, die tatkräftig anpacken oder neben uns sitzen und einfach zuhören oder trösten. Es sind Menschen gefragt, die uns stärken und Kraft schenken. Menschen, die geduldig mit uns sind und selbst Geduld ausstrahlen. Verständnis ist gefragt und Zuneigung. Wie nie zuvor sehnen wir uns nach Umarmung, Halt und Trost. Und also habe ich in jenen Tagen im September gesprochen über den Menschen Jesus. Ich möchte, dass wir den Menschen hinter dem Glauben wieder entdecken. Menschen werden nicht satt an Bekenntnissen. Menschen lassen sich nicht mit Wahrheiten trösten. Menschen erfahren keinen Ausweg in ihrem Leben, indem man ihnen mitten in einer Pandemie Erlösung predigt. Und Menschen fühlen sich nicht solidarisch ernst genommen mit dem Verweis auf die Schmerzen, die Jesus selbst am Kreuz erlitten hat, außer man erzählt ihnen die Wirklichkeit, die er erlebt hat. Hilflosigkeit im Angesicht des Todes, Trauer und Tränen, als Freunde ihn verraten haben. Liebe und Geborgenheit in den Armen seiner besten Freunde, und Schmerz, als sie ihn nicht verstanden. Wunder habe er getan, so sagt man. In Wirklichkeit ist er einfach bei den Menschen stehen geblieben, die ihn gebraucht haben. 

 

Und das ist das Geheimnis der Weihnacht. Stehen bleiben, wo immer uns ein Mensch braucht. Jenen Menschen in die Arme nehmen und spüren, wie Lebensenergie übergeht und Wärme der Zuneigung spürbar wird. Einander berühren dürfen. Wir dürfen zulassen, dass wir eine gebrochene Menschheit sind, die so vielem ausgeliefert war in diesem Jahr: Der Pandemie, den Fluten, den Dürren, den Kriegen. So vielem, was uns bedroht und zerstört. Und wir haben dem allem nur zweierlei entgegenzusetzen: Zugewandtheit und Vernunft. Die Vernunft einer Klimapolitik, die diesen Planeten bewohnbar bleiben lässt, auch für künftige Generationen, und die Vernunft, sich impfen zu lassen gegen Covid 19, damit der Schrecken der Pandemie uns nicht weiter lähmt. Und die Fähigkeit, einander Nähe zu schenken, die unsere Herzen nicht verkümmern lässt. Augen, die uns in unsere Augen sehen bis tief in die Herzen. Begegnungen, die die Seelen heilen lassen. 

 

In jenen Tagen im September haben wir darüber geredet, was uns in den vergangenen Monaten geholfen hat. Für manche war es das Gebet, für andere der Glaube an einen Gott, der uns auch in der Not nahe ist. Für alle aber waren es Menschen, die für Menschen einstanden. Menschen der Begegnung mit dem Herz am rechten Fleck und zwei Händen, die mit angepackt haben, wo es Not tat. Und davon bin ich überzeugt. Menschen mögen glauben, was sie wollen. Die Menschheit wird nur dann eine Chance haben, wenn wir das werden, was wir sind: Menschen. Menschen, die die Menschlichkeit wieder lernen. Menschen, die wissen, wie zerbrechlich das Leben ist und wie angreifbar wir dem Leben manchmal ausgeliefert sind. Menschen, die einander beistehen und voller Leidenschaft einander begleiten, weil wir Menschen sind. Darum gefallen mir die Weihnachtsbilder besser, in denen Maria ihren Sohn an der Brust trägt, ihn zu nähren, Josef eine Decke um ihn wickelt, ihn zu schützen, und die Hirten Lieder singen von der Freude, dass wieder ein Mensch geboren wurde, den wir ins Leben hinein begleiten dürfen. 

 

Weihnachtswünsche? Sehr gerne auch von mir für Euch, für Sie, für uns: In diesem Jahr wünsche ich uns zu Weihnachten die drei großen G: Geimpft. Genesen. Geliebt.

 

 

Autor und Sprecher: Prälat Michael H. F. Brock
Quelle: Weihnachtsgruß 2021

Künstlerinnen und Künstler der Kreativwerkstatt Rosenharz; Motiv von Renate Hoffmann