Gesundheit
Menschen mit Behinderungen – medizinisch gut versorgt?
Die multiprofessionellen Teams der St. Lukas-Klinik sind darauf spezialisiert, sich mit hoher menschlicher und fachlicher Kompetenz um besondere Patienten zu kümmern. Was das in der täglichen Arbeit bedeutet und welche aktuellen Entwicklungen es im Gesundheitsbereich für Menschen mit Behinderungen gibt, erläutert Irmgard Möhrle-Schmäh, Geschäftsführerin Liebenau Kliniken, im Interview.
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Frau Möhrle-Schmäh, wohin gehen Menschen mit Behinderungen, wenn sie krank werden?
Das hängt davon ab, wo sie leben. Wenn sie in einer eigenen Wohnung oder bei ihrer Familie leben, werden sie zunächst mal zum Hausarzt gehen, dann eventuell zu einem Facharzt oder ins Krankenhaus. Genauso wie Menschen ohne Behinderungen. Wenn sie bei uns in einer stationären Einrichtung leben, werden sie von unserer allgemeinmedizinischen Ambulanz betreut. Kinder mit Behinderungen können außerdem in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) betreut werden.
Nach Ihren Erfahrungen: Können sie im Regelsystem gut versorgt werden?
In vielen Fällen sicher. Aber das System kommt auch häufig an Grenzen. Viele Patientinnen und Patienten, die zu uns kommen, waren zuvor schon an mehreren anderen Stationen. Dort konnten sie eben nicht angemessen versorgt werden.
Oft gelingt es ihnen schon mal nicht, sich an die Abläufe in einer niedergelassenen Praxis anzupassen: Jemand erträgt zum Beispiel das Sitzen im Wartezimmer nicht. Oder weigert sich, Kleider abzulegen für eine Untersuchung. Oder - was sehr häufig ist - die sprachliche Verständigung klappt nicht. Noch schwieriger wird das bei einem stationären Aufenthalt, wenn mehrere Personen ein Zimmer teilen und wenn man sich der Zeittaktung im Krankenhaus unterordnen muss.
In unserem Gesundheitssystem haben wir viele Spezialistinnen und Spezialisten. Das ist einerseits gut so, weil viel Fachwissen da ist. Es führt aber auch dazu, dass jeder nur seinen jeweils speziellen fachlichen Blick für die Kranken hat. Das wird zum Problem, weil unsere Patienten häufig mehrere Diagnosen haben oder die Symptome nicht klar zuzuordnen sind. Wenn zum Beispiel ein Patient über einen längeren Zeitraum unerklärlich aggressives Verhalten zeigt, wird das möglicherweise zu einer psychiatrischen Diagnose führen. Möglicherweise verhält er sich aber nur so, weil ihn unklare Schmerzen quälen. Und das auffällige Verhalten wäre zu Ende, wenn die Schmerzursache behoben ist.
Und was ist in Ihren Einrichtungen anders?
Vor allem haben wir einen anderen Blick. Wir betrachten die Patientinnen und Patienten aus unterschiedlichen Perspektiven. Menschen verschiedener Berufsgruppen arbeiten zusammen, Diagnostik und Therapie umfassen somatische und psychiatrische Aspekte. Die langjährige Erfahrung - unser Krankenhaus gibt es schon seit 45 Jahren - hat dazu geführt, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr routiniert sind in der Kommunikation mit Menschen mit geistigen Behinderungen. Auch unsere Räume und deren Ausstattung richten sich nach unseren besonderen Patienten. Und wir können sie, wenn nötig, in unseren Ambulanzen und der neuen Tagesklinik begleiten.
Der Grundgedanke der interdisziplinären Zusammenarbeit reicht über unsere Türschwelle hinaus. Mit dem Krankenhaus Tettnang besteht eine langjährige Kooperation - Patienten werden dort operiert, bei uns nachbetreut. Mit Facharztpraxen arbeiten wir ebenso eng zusammen wie mit Beratungsstellen, Sozialpädiatrischen Zentren und natürlich mit Angehörigen und Betreuungspersonen der Patienten.
Reicht das Leistungsspektrum aus? Was bräuchten Patienten beziehungsweise Angehörige noch?
Wir haben gemeinsam mit anderen Trägern lange dafür gekämpft, dass eine ganzheitliche Versorgung, wie wir sie stationär bieten, auch ambulant möglich wird. Für Kinder und Jugendliche gibt es die schon erwähnten Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) als Anlaufstellen. Mit dem Erwachsenenalter endete bisher diese Leistung, und den Betroffenen blieb erstmal nur das System der Regelversorgung, mit den genannten Problemen. Auf politischer Ebene hat man schon vor drei Jahren reagiert und den gesetzlichen Rahmen geschaffen für so genannte MZEB - Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderungen. Hier können Menschen behandelt werden, die wegen der Art, Schwere oder Komplexität ihrer Behinderungen, vor allem auch wegen einer eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit, auf die ambulante Behandlung in diesen Einrichtungen angewiesen sind. Die Umsetzung läuft allerdings nur sehr zögerlich und von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Erfreulicherweise konnten wir nach langen Verhandlungen mit den Krankenkassen jetzt endlich eine Vereinbarung treffen, und wenn letzte Details geklärt sind, können wir in absehbarer Zeit mit unserem MZEB starten.
Worin besteht dann die besondere Leistung?
Das MZEB setzt das System der SPZ fort. Beteiligt sind verschiedene Berufsgruppen, die den ganzheitlichen Blick im ambulanten Bereich behalten. Sie beziehen alle anderen Beteiligten - behandelnde Ärzte, Einrichtungen und Dienste der Eingliederungshilfe und des Öffentlichen Gesundheitsdienstes - mit ein und fungieren in gewisser Weise als "Lotsen", die nach einer spezialisierten Diagnostik einen umfassenden Behandlungsplan erstellen und, wenn nötig, weitere fachärztliche Leistungen koordinieren. Bei uns sind Kolleginnen und Kollegen aus Medizin, Psychologie, Physio- und Ergotherapie, Pädagogik und Pflege beteiligt, und alle nötigen diagnostischen und therapeutischen Einrichtungen stehen innerhalb der St. Lukas-Klinik zur Verfügung. Ziel der Behandlung ist, dass die Betroffenen im gewohnten Lebensumfeld bleiben können. So unterstützt das MZEB Inklusion und Teilhabe.
Stichwort Inklusion: Wäre es nicht besser, das Gesundheitswesen käme ohne solche besonderen Einrichtungen aus?
Was heißt besser? Genauso könnten Sie sagen, es wäre besser, wenn alle Krankheiten in der Hausarztpraxis behandelt werden könnten. In speziellen Lebenssituationen sind wir doch froh über spezialisierte Angebote. Denken Sie an Schlaganfall-Patienten oder an die Frühchenversorgung. Die hohe fachliche Qualität unseres Gesundheitssystems wird ja gerade durch solche medizinischen Schwerpunkte gewährleistet. Wirtschaftlich wäre es gar nicht zu realisieren, wenn jedes Krankenhaus alle Experten und alle Apparate vorhalten wollte. Unser Krankenhaus als Spezialkrankenhaus für Menschen mit Behinderungen ist ein Beitrag zur Qualität des gesamten Systems.
Wohin geht die Entwicklung im Gesundheitsbereich, speziell für Ihre besonderen Patienten?
Unser Gesundheitswesen ist fachlich sehr gut, aber es hat ein großes Kostenproblem. Viele kleine Häuser der Regelversorgung müssen schließen, die Zeit für die Kranken wird immer knapper. Damit wird die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten im Regelsystem natürlich immer schwieriger. Erfreulicherweise sieht die Politik aber den Bedarf für spezialisierte Leistungen, wie wir sie erbringen.
Generell drücken im Gesundheitswesen momentan auch Personalfragen. In der St. Lukas-Klinik spüren wir das zum Glück noch nicht so stark, wir sind gut besetzt, mit sehr motivierten und kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Viele sind schon sehr lange bei uns - und das, obwohl die Arbeit mit unseren besonderen Patienten den Einzelnen viel abverlangt. Aber die Arbeit wird eben auch als besonders sinnstiftend erlebt, und sie entscheiden sich explizit dafür.
Die St. Lukas-Klinik in Bildern








Die emotionale Entwicklung ist ein Grundbaustein der Persönlichkeit
Was bedeutet es, wenn eine 19-Jährige das Bild eines Teenie-Stars liebkost wie ein Kuscheltier? Das passt doch gar nicht zu ihr – in diesem Alter! Oder etwa doch? Und wie kommt man an eine Patientin heran, die alles verweigert und für niemanden zugänglich scheint? Mögliche Antworten stecken in diesen drei Buchstaben: SEO. Das ist die Abkürzung für ein Erklärungsmodell zur emotionalen Entwicklung. Dieses Schema hilft, das Verhalten von Menschen mit geistiger Behinderung besser zu verstehen. Entwickelt wurde es vor Jahren in den Niederlanden, inzwischen gehören Fachleute aus verschiedenen europäischen Zentren zu einem fachlichen Netzwerk. Darunter auch Psychologen und Mediziner aus der St. Lukas-Klinik.
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Der niederländische Facharzt für Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie Prof. Dr. Anton Došen hat sein „Schaal voor Emotionele Ontwickkling“ (SEO) schon vor Jahren entwickelt und damit neue Wege in der Diagnostik und Therapie von Verhaltensproblemen gewiesen. Seine Kernaussage: „Die emotionale Entwicklung ist die Basis für die Ich-Werdung.“ Dieser Grundbaustein steht für Prof. Došen sogar an erster Stelle in der Persönlichkeitsentwicklung – und in einer Wechselbeziehung zu kognitiven und sozialen Fähigkeiten und Bedürfnissen. „Bei Menschen mit geistiger Behinderung ist nicht nur die kognitive und soziale, sondern auch die emotionale Entwicklung beeinträchtigt“, so seine Erkenntnis. Vor diesem Hintergrund hat er ein Modell mit fünf Entwicklungsstufen entwickelt, die einem bestimmten Lebensalter zugeordnet sind. Dies hilft, die Persönlichkeit besser zu verstehen, die Ursache von Verhaltensproblemen zu erkennen und daraus Strategien zur Therapie zu entwickeln.
St. Lukas-Klinik gehört zu den Vorreitern
Denn oft klaffen das emotionale und kognitive Entwicklungsniveau auseinander. Die Beispiele der eingangs erwähnten Patientinnen verdeutlichen dies: Sie waren aufgrund eines für sie belastenden Ereignisses vorübergehend auf den emotionalen Entwicklungsstand von dreijährigen Kindern zurückgefallen, was sich durch Verhaltensprobleme wie Aggression und Verweigerung äußerte. Die Beispiele stammen aus dem Alltag der St. Lukas-Klinik der Stiftung Liebenau. Sie hat als mit als eine der ersten in Deutschland schon im Jahr 2010 begonnen, mit SE0 zu arbeiten und aus der wissenschaftlichen Erkenntnis einen pragmatischen Arbeitsvorschlag entwickelt: Als weitere Stufe beschreibt SEO 6 für Menschen mit geistigen Behinderungen die „soziale Autonomie“ in einem Entwicklungsalter von 12 bis 18 Jahren.
Gute Erfolge in der Therapie mit SEO
Die Klinik verzeichnet gute Erfolge in der Anwendung von SEO. Statistisch messbar wird dies dadurch, dass nach einer an SEO ausgerichteten Therapie in vielen Fällen der Einsatz von Psychopharmaka verringert werden kann.
Sein Lachen ist sensationell
Autos sind seine Welt. Umso aufgeregter ist Max Stepp, wenn ihn seine Eltern alle drei Wochen mit ihrem Wohnmobil aus der Wohngruppe abholen, um gemeinsam die Gegend zu erkunden. Als er vor vier Jahren in Liebenau ankam, wäre an solche Ausflüge nicht zu denken gewesen.
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Max kam als Frühchen auf die Welt, zeigte eine Sehbehinderung und suchte auffallend viel Nähe und Bindung. Doch erst als er neun war, wurde bei einem Aufenthalt in der Eltern-Kind-Station der St. Lukas-Klinik die Diagnose Intelligenzminderung und Autismus gestellt. Zunächst lebte er weiterhin bei seinen Eltern und besuchte eine sonderpädagogische Schule. Ein großes Problem für Eltern und Schule: Er brauchte immer eine Bezugsperson, konnte nicht allein sein. Wenn etwas nicht so lief, wie er wollte, reagierte er aggressiv und autoagressiv. Schließlich kam er in die St. Lukas-Klinik, lebt seit vier Jahren in einer Sozialtherapeutischen Wohngruppe und bekommt viermal in der Woche Einzelunterricht in der Klinikschule.
Richtiges Maß aus Förderung und Akzeptanz
Die Leitende Oberärztin Dr. Jutta Vaas lernte Max in der kinder- und jugendpsychiatrischen Station kennen. „Für Max sind klare Grenzen wichtig. Er fordert viel, und wenn man immer nachgibt, kommt er in einen Zustand, aus dem er selbst nicht mehr herauskommt. Dann verletzt er sich selbst. Für die Eltern und Betreuerinnen war kaum auszuhalten, wie er sich selbst weh tut. Irgendwann konnten sie nicht mehr.“ In der Station ging es vor allem darum, das richtige Maß an Förderung und Akzeptanz seiner Behinderung zu finden. Als Autist hielt er es nur schlecht aus, wenn viel um ihn herum passierte. Also wurden zunächst alle Anforderungen reduziert. Das brachte Ruhe. Dann wurde versucht, Max' hohe Empfindlichkeit in den Griff zu bekommen. „Wir schufen ein Setting mit weniger Reizen von außen; die Medikation bewirkte eine innere Stabilisierung.“
Irgendwann reagierte Max konstruktiv
Nach einigen Wochen konnte Max in eine Wohngruppe umziehen, wo er ganz langsam integriert wurde. „Am Anfang war es nicht einfach“, erinnert sich Jugend- und Heimerzieherin Laura Decker. Die Betreuer mussten einige Maßnahmen ergreifen, um ihn vor sich selbst zu schützen. Es gab Zeiten, da konnte man ihn nicht aus den Augen lassen. „Diese Aggression, vor allem aber die Autoaggression auszuhalten, war total schwer.“ Aufgabe der Betreuer war, ihm zu vermitteln, dass er mit diesem Verhalten nicht weiterkommt, und ihm kontinuierlich Beziehung anzubieten. Irgendwann war Max soweit und reagierte konstruktiv und positiv darauf. „Schritt für Schritt, mit Höhen und Tiefen und auch mal frustrierenden Rückschritten, kam ein Charakter hervor, den wir davor nicht kannten: Wenn dieser Kerl lacht, ist das wirklich sensationell!“
Eine stabile Entwicklung
Und nicht nur das: Max ist stabiler geworden, offener und beziehungsfähiger. Er kann sein Verhalten regulieren und sich sprachlich besser verständigen. Allmählich hat er gelernt zu warten und sich allein zu beschäftigen. Max‘ Eltern sind froh darüber. „Seine Entwicklung ist enorm, er hat sich toll eingelebt“, haben sie festgestellt. „Wenn er nach einem Wochenende mit uns zurückkehrt, sagt er immer: Ich geh' zu meinen Freunden.“ Der nächste große Schritt für Max steht im nächsten Jahr bevor. Dann endet die Schule, und die Maßnahme der Therapeutischen Wohngruppe läuft aus. Ein Spannungsfeld für ihn und alle Beteiligten – schließlich ist oberstes Ziel, dass Max‘ Entwicklung so stabil weitergeht.
Die Tagesklinik ist unser Anker
Joana ist ein freundliches und fröhliches Mädchen. Die 15-Jährige lacht gerne über Witze ihrer Klassenkameraden, freut sich über Späße ihrer kleinen Cousine und macht gerne Quatsch mit ihren Eltern. Es gab aber eine Zeit, da konnte Joana einfach nicht mehr lachen. Sie war nicht mehr belastbar, mochte weder in die Schule gehen noch Ausflüge machen und zeigte zunehmend auch körperliche Beschwerden. Die Situation spitzte sich immer mehr zu, so dass ihre Eltern erkannten: „Wir brauchen externe Hilfe.”
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Sie bekamen diese Hilfe in der Tagesklinik Bernsteinstraße in Stuttgart-Heumaden. Etwa drei Monate lang war Joana dort in Therapie. „Jetzt kann ich wieder lachen”, fasst Joana selbst das Ergebnis ihrer Therapie zusammen und strahlt ihre Eltern Annette und Rainer an. Sie führen jetzt wieder ein entspanntes Familienleben mit ihrer Tochter, die das Alfi-Syndrom hat. Es beruht auf einem äußerst seltenen Chromosomenfehler, der zu mentalen und körperlichen Beeinträchtigungen führt. Für Joanas Situation ist die Tagesklinik Bernsteinstraße wie geschaffen. Behandelt werden Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung, insbesondere mit geistigen Behinderungen und mit zusätzlichen psychischen Erkrankungen. Junge Patienten aus Stuttgart und den angrenzenden Landkreisen können hier eine wohnortnahe Therapie erhalten, sofern nicht zwingend ein vollstationärer Aufenthalt erforderlich ist.
Joana verweigerte den Schulbesuch
Joana und ihre Eltern kannten die Tagesklinik in der Stuttgarter Bernsteinstraße bereits aufgrund eines früheren Aufenthaltes, bei dem sie sich gut begleitet wussten. Wegen dieser guten Erfahrung, aber auch wegen der Nähe zum Wohnort meldeten sie sich erneut dort, als sie sich in einer belastenden bis ausweglosen Situation sahen. Denn Joana verweigerte den Schulbesuch, wollte nichts mehr unternehmen, war schnell überfordert, reagierte auf Stress mit dissoziativen – in diesem Fall krampfartigen – Anfällen, hatte oft Bauchweh und Kreislaufprobleme. Kurzum: Das gesamte Gefüge stimmte nicht mehr. Das hatte auch Folgen für das Familienleben, für den beruflichen Alltag der Eltern, für die Klassengemeinschaft. „Wir haben alles Mögliche versucht und kamen mit unseren Ideen nicht mehr weiter”, berichtet Vater Rainer.
Entwicklungsanstöße in fürsorglicher Atmosphäre
Heide Schröder-Kranz, Leitende Oberärztin der Tagesklinik Bernsteinstraße, kennt diese Situation. Viele ihrer jungen Patienten haben bereits eine Odyssee hinter sich, bis sie zu ihr kommen. „Wenn sie bei uns sind, machen wir eine komplett neue Bestandsaufnahme”, berichtet die Ärztin. Gegenüber einer Ambulanz habe die Tagesklinik den Vorteil, dass das Fachteam die Kinder und Jugendlichen den ganzen Tag in verschiedenen Bezügen erleben und begleiten kann. Auf zwei Stationen können in der Tagesklinik insgesamt 20 Kinder und Jugendliche in altersgemischten Gruppen aufgenommen werden. Der diagnostische und der therapeutische Prozess sind von Anfang an miteinander verknüpft. In der Klinik erhalten sie in fürsorgender Atmosphäre Entwicklungsanstöße, die im geschützten Rahmen schrittweise erweitert und gefestigt werden. Angeschlossen an die Tagesklinik ist eine kleine Schule.
Neue Freunde in der Tagesklinik
Joana hat ihren Aufenthalt in der Tagesklinik Bernsteinstraße als sehr abwechslungsreich erlebt. Musiktherapie, Schwimmen, Klettern, Ausflüge, Backen, Schülercafé – es gibt so vieles, an das sich die 15-Jährige gerne erinnert. „Ich hatte auch Zeit, in der Gruppe zu basteln und zu spielen”, erzählt Joana und fügt noch etwas ganz Wichtiges hinzu: „In der Tagesklinik habe ich zwei neue Freunde gefunden.” Gut getan haben ihr auch die regelmäßigen Gespräche mit Arzt und Psychologen. „Die enge Begleitung und das Wahrnehmen ihrer Bedürfnisse haben ihr geholfen. Sie ist gestärkt aus der Therapie rausgegangen”, berichten ihre Eltern Annette und Rainer. „Uns haben die Gespräche mit Ärzten, Psychologen und Lehrkräften der Tagesklinik ebenfalls sehr geholfen.” Auch nach der Therapie haben sie noch regelmäßige Gesprächstermine mit Mitarbeitern der Tagesklinik und sind froh über diese „Backup-Sicherung”.
Hilfestellung im Alltag
Für Joanas Alltag zu Hause haben sie gemeinsam einige Stellschrauben gefunden, mit denen Stressfaktoren gemildert oder vermieden werden können. Denn es hatte sich in der Tagesklinik herausgestellt, das Joana mit körperlichen Beschwerden oft auf Stress reagiert. Hinzukommt, dass sie mitten in der Pubertät steckt, aber mit ihrer sozio-emotionalen Entwicklung ihrer körperlichen Reife um einige Jahre hinterher hinkt. Das ist typisch für Menschen mit einer geistigen Behinderung. „Wir müssen uns daran auch immer wieder erinnern”, sagt ihr Vater. Hilfestellungen in Alltagssituationen, etwa bei der Körperpflege, wurden diesem Umstand nun angepasst. Der bislang sehr lange Bustransfer zur Schule wurde umgestellt und damit deutlich abgekürzt – eine große Entlastung für die 15-Jährige. Und mit ihrer Lehrerin treffen sich Joana und ihre Eltern nun regelmäßig zu Gesprächen.
Entlastung erfahren
Die enge Einbindung der Eltern ist aus Sicht von Heide Schröder-Kranz elementarer Bestandteil der Behandlung und entscheidend für den Therapieerfolg. Denn es soll ja gemeinsam herausgefunden werden, welche Schritte erforderlich und alltagstauglich sind, damit die Kinder eine Entlastung erfahren und wieder eine Perspektive haben. „Ziel der Behandlung ist, die Kinder und Familien so zu stärken, dass wir überflüssig werden”, erklärt die Ärztin.
Familienleben wieder im Lot
„Joana geht wieder gerne zur Schule und empfindet keinen Druck mehr. Und wenn doch etwas belastend ist, dann weiß sie, dass sie es sagen kann”, erzählen ihre Eltern. Dies kommt nicht nur der 15-Jährigen, sondern auch dem schulischen Leben zugute. Zudem hat sie wieder Freude an Ausflügen, nimmt gerne am Leben teil, möchte sich mit Freunden und Verwandten treffen. „Die Großeltern merken auch, dass sie entspannter ist”, sagt ihre Mutter. Das gesamte Familienleben ist wieder ins Lot gekommen, der Alltag klappt gut. Dies wirkt sich sogar, wie die Eltern berichten, auf ihren Berufsalltag aus: „Weil es Joana gut geht, können wir uns jetzt wieder entspannter und besser auf unsere Arbeit einlassen.” Kurzum: Für die ganze Familie ist die Tagesklinik Bernsteinstraße ein „wichtiger Rückhalt mit Langzeitwirkung”, sagt Mutter Annette. „Die Tagesklinik unser Anker. Wenn Joana das Wort Bernsteinklinik hört, dann guckt sie auf und lacht.”
Weitere Informationen
Gemeinsam mit der Mariaberger-Fachkliniken GmbH betreiben wir in Stuttgart die Tagesklinik Bernsteinstraße. Mehr dazu erfahren Sie hier.
Die neue Tagesklinik in Liebenau






Professionelles Konzept und behagliche Atmosphäre
Es kommt selten vor, dass eine Einrichtung der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu einem „Tag der offenen Tür“ einlädt. Doch die Stiftung Liebenau hat jetzt eine neue Tagesklinik eröffnet und die Freude darüber gerne mit Fachpublikum und Bevölkerung geteilt. Es handelt sich um eine Tagesklinik speziell für Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen und zusätzlichen psychischen Erkrankungen. Sie ist weithin einzigartig: Die nächste Tagesklinik dieser Art befindet sich – ebenfalls unter Beteiligung der Stiftung Liebenau – in Stuttgart. Sie stand nun Pate für das neue Therapieangebot in Oberschwaben.
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Im Zentrum der Tagesklinik befindet sich ein großer, behaglicher und vielseitig nutzbarer Raum. Er ist von allen Seiten von Licht durchströmt und ringsum von kleineren Therapie- und Gemeinschaftsräumen umgeben. Zudem laden abwechslungsreich gestaltete Nischen zum Entdecken oder Entspannen ein. Beim „Tag der offenen Tür“ konnten die Besucher einen umfassenden Eindruck davon gewinnen. Prälat Brock segnete die Räume mit den Worten: „Gesegnet seien die Menschen in diesen Räumen. Gesegnet seien auch die Räume, die für die Menschen zum Segen werden können.“
Wertvolles Bindeglied
Entstanden ist die neue Tagesklinik im dritten Obergeschoss der St.-Lukas-Klinik in Meckenbeuren-Liebenau. Dieses hochspezialisierte Krankenhaus der Stiftung Liebenau umfasst internistische, psychiatrische und kinder- und jugendpsychiatrische Abteilungen für Menschen mit geistigen Behinderungen und Entwicklungsstörungen. Die neue Tagesklinik stellt nun ein wertvolles Bindeglied zwischen der ambulanten und vollstationären Behandlung von Kindern und Jugendlichen dar. Sie kommen morgens in die Tagesklinik, werden von einem multiprofessionellen Team betreut und kehren am Nachmittag in ihre vertraute Umgebung zurück. Es gibt insgesamt acht Plätze. Fünf junge Patienten sind zum Start bereits aufgenommen worden. Zwei von ihnen – Mio (11) am Klavier und Manuel (13) am Cajon – umrahmten die Einweihungsfeier unter Anleitung von Musiktherapeutin Michaela Fischer und erhielten dafür herzlichen Applaus.
Atmosphäre zum Wohlfühlen
„Wir freuen uns sehr, dass wir dieses neue Angebot haben“, sagte Irmgard Möhrle-Schmäh, Geschäftsführerin der Liebenau-Kliniken. Sie dankte allen Beteiligten und Wegbereitern, insbesondere auch ihrem Mit-Geschäftsführer Sebastian Schlaich, der das Bemühen um diese neue Einrichtung nie aufgegeben hatte. Die Tagesklinik sei „lang ersehnt“ gewesen, berichtete Dr. Markus Nachbaur vom Vorstand der Stiftung Liebenau bei einem Fachtag, der mit mehr als 80 Teilnehmern parallel zum „Tag der offenen Tür“ stattfand. Demnach ist die Idee zu der Tagesklinik in Liebenau 2013 entstanden. Die Planung startete 2016, der Umbau und Ausbau in einem bestehenden Gebäude begann Anfang 2018. Die Baukosten beliefen sich auf 1,2 Millionen Euro. Dr. Nachbaur zeigte sich hocherfreut über das Ergebnis: „Wir haben gute Rahmenbedingungen geschaffen für eine Atmosphäre, in der sich Kinder und Jugendliche wohlfühlen im Sinne unseres Leitwortes: In unserer Mitte – der Mensch.“
Seelische Störungen sind weit verbreitet
Bei dem Fachtag beleuchteten mehrere Referenten verschiedene Aspekte des Themas „Entwicklung mit Hindernissen – Entwicklungsperspektiven für Kinder mit Mehrfachbehinderung“. Katharina Kraft, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der St.-Lukas Klinik, berichtete, dass etwa 21 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland psychisch auffällig sind, beispielsweise durch Angststörungen, gravierende Störungen des Sozialverhaltens oder depressive Störungen. Jedoch seien psychiatrische Behandlungsangebote gerade für Kinder mit Mehrfachbehinderungen nicht flächendeckend vorhanden. Dabei sei deren Risiko, psychisch zu erkranken, sogar drei bis vier Mal höher als bei anderen Kindern. Um ihnen zu helfen, sei die Kooperation mit vielen Fachleuten – von Kinderärzten, Kinder-und Jugendpsychiatern , Psychotherapeuten, Sozial- und Heilpädagogen bis hin zu Physio-und Ergotherapeuten und mit den verschiedenen Ämtern der Jugend-und Eingliederungshilfe – wichtig.
Zusammenarbeit mit dem Umfeld ist wichtig
All diese Berufsgruppen waren auf dem Fachtag vertreten, bei dem die leitende Oberärztin der Tagesklinik Bernsteinstraße in Stuttgart, Heide Schröder-Kranz, den Hauptvortrag hielt. Diese Tagesklinik habe in den zehn Jahren ihres Bestehens bisher 753 Kinder und Jugendlichen behandelt und sehr vielfältige Erfahrungen gemacht, berichtete sie. Einen großen Vorteil der Tagesklinik im Gegensatz zu einer ambulanten Betreuung beschrieb sie so: „Wir erleben die Kinder in alltäglichen Situationen“. Auch viele Eltern fühlen sich endlich verstanden. Zugleich warnte Heide Schröder-Kranz vor allzu hohen Erwartungen. Die Voraussetzungen für eine tagesklinische Behandlung sei nicht nur ein Wohnort in der Umgebung von bis zu einer Stunde Fahrtzeit. Entscheidend seien vor allem „ein präsentes, erreichbares, kooperationsfähiges und kooperationswilliges Umfeld“.
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Alles Weitere zu unserem neuen teilstationären Angebot in Liebenau lesen Sie hier.
Wenn der Zahnarzt kommt
Zahngesundheit ist keine Frage des Alters, sondern ist in jeder Lebensphase wichtig. Doch gerade für ältere Menschen, die in einem Haus der Pflege leben, ist es nicht einfach, regelmäßig zum Zahnarzt zu gehen. Vor allem Menschen mit Demenz oder mit starken Einschränkungen ihrer Mobilität haben hier große Schwierigkeiten. Der Liebenauer Zahnarzt Dr. Danijel Bago hat deshalb einen Hausbesuchsdienst eingerichtet und kommt auch ins Haus St. Josef der Stiftung Liebenau in Brochenzell. Er leitet seit 2011 die zahnmedizinische Praxis in der St. Lukas-Klinik in Liebenau und ist auf die Behandlung von Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen spezialisiert.
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Zwar können Zahnärzte seit fünf Jahren den Hausbesuch bei Pflegebedürftigen besser abrechnen, dennoch ist die Zahl der Behandlungen nicht nennenswert gestiegen. Laut einer Studie der Barmer Krankenkasse haben bundesweit nur 27 Prozent der Pflegeheime einen Kooperationsvertrag mit einem Zahnarzt abgeschlossen (Stand 2017). Umso froher sind die Verantwortlichen im Haus St. Josef über Dr. Bagos Besuche. „Wir brauchen einen Zahnarzt, der ins Haus kommt, denn wir haben einige Bewohner, die nicht transportfähig oder dement sind", sagt Pflegedienstleiter Georg Schlegel.
Komplette zahnärztliche Versorgung
16 der 60 Heimbewohner im Haus St. Josef haben an diesem Tag einen Termin bei Dr. Bago. Während der Zahnarzt bei jedem Patienten Zahnstatus, Mundhöhle und Sitz der Prothese prüft, trägt Zahnarzthelferin Tamara Schuler alle Daten in den Patientenbogen ein und notiert die voraussichtliche Dauer einer weiterführenden Behandlung. Denn bei einigen müssen Zähne gezogen werden. Das geht nur in der Praxis von Dr. Bago in Liebenau. In Zusammenarbeit mit der St. Lukas-Klinik der Stiftung Liebenau kann er Behandlungen unter Vollnarkose durchführen und eine komplette stationäre Vor- und Nachsorge unter fachlicher Überwachung garantieren. Nachdem das Einverständnis für eine weitere Behandlung vom jeweiligen Betreuer eingeholt worden ist, organisiert das Heim den Krankentransport nach Liebenau. „Wir decken den gesamten zahnmedizinischen Bereich bis hin zum eigenen Zahnlabor ab. Wir haben alles unter einem Dach", erklärt der Zahnarzt. Zudem ist sein Personal im Umgang mit Menschen mit Behinderung und älteren, demenzkranken Menschen professionell geschult.
Begegnung auf Augenhöhe
Für die Patienten trägt die Untersuchung in vertrauter Umgebung und im Beisein von Altenpflegerin Stefanie Stumm wesentlich zur Entspannung bei. Durch seine jahrelange Erfahrung weiß Dr. Bago genau, wie er mit den älteren Menschen umgehen muss – auch mit jenen, die nicht so gut kooperieren. Freundlich, aber bestimmt bringt er sie dazu, den Mund zu öffnen. Für jeden hat er noch ein nettes Wort übrig. Regelmäßige Kontrolle sei wichtig. Denn: „Auch wenn ein beschädigter Zahn im Moment nicht weh tut, kann sich das schlagartig ändern. Manchmal können alte Menschen ihre Schmerzen nicht äußern, darunter leidet nicht zuletzt auch das Pflegepersonal", weiß der Zahnarzt. Generell sei auch die Mundhygiene ein großes Thema, berichtet er und zeigt Stefanie Stumm, wie sie bei der Zahnreinigung noch besser unterstützen kann. „Immer schön die Prothese sauber halten, sonst gibt es statt Wiener Schnitzel bald nur noch Brei", gibt er seinem Patienten zum Abschied mit auf den Weg.
Weitere Informationen
Angst vor dem Zahnarzt? In der Praxis von Dr. Danijel Bago liegt der Schwerpunkt des Angebotes auf der Behandlung von zahnmedizinischen Problemem unter erschwerten Bedingungen. Hier erfahren Sie mehr.
Medizin als Detektivarbeit
„Herr Doktor, ich habe Sodbrennen.“ Ein Satz, wie er vermutlich täglich in jeder Hausarztpraxis fällt. Ganz selbstverständlich kann der Otto-Normal-Patient seinen Schmerz lokalisieren und verbalisieren. Ganz selbstverständlich kann ein Mediziner daraufhin eine Diagnose stellen und dem Patienten helfen. Eine einfache Gleichung, die bei Menschen mit Behinderungen und psychischen Begleiterkrankungen jedoch nicht aufgeht. Die Internistische Station der St. Lukas-Klinik ist, als eines von nur drei Kompetenzzentren für Menschen mit Behinderung in Deutschland, auf solche Fälle spezialisiert.
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„Krankheitssymptome bei Patienten mit Behinderungen sind häufig unspezifisch“, sagt Dr. Jürgen Kolb, Chefarzt der Abteilung für allgemeine Psychiatrie und der internistischen Station. „Wenn sie keine konkreten anatomischen Vorstellungen von ihrem Körper haben, dann ist ein Sodbrennen ein Ganzkörperschmerz.“ So stehen die Ärzte in Liebenau nicht selten vor einer diagnostischen Detektivarbeit, die nur in multiprofessioneller Teamarbeit gelöst werden kann. Da vielen Patienten die Krankheitseinsicht fehlt und sie sich nicht artikulieren können, verhalten sie sich entsprechend abwehrend. Schon bei der gemeinsamen Aufnahmekonferenz diskutieren Psychiater und Internisten deshalb zunächst, welche gesundheitliche Problematik gerade den größeren Leidensdruck erzeugt und vorrangig zu therapieren ist.
Kurze Wege zur Klinik Tettnang
Interdisziplinäres Zusammenspiel mit der psychiatrischen Abteilung der St. Lukas-Klinik ist aber auch in der täglichen Arbeit gefragt: „Wir setzen die Diagnose und Behandlung unserer Patienten in den Kontext ihrer Lebensumstände. Unsere Betrachtung muss deshalb auch immer eine ganzheitliche sein“, sagt Dr. Jürgen Kolb. Kurze Wege kennzeichnen auch die Kooperation mit der Klinik Tettnang, wo die Akutversorgung der Patienten erfolgt oder Untersuchungen durchgeführt werden, die in Liebenau aus technischer Sicht nicht möglich sind. Zurück in Liebenau profitieren die Patienten dann insbesondere von der pflegerischen Erfahrung und Expertise, für die es in anderen Krankenhäusern schlicht keine Ressourcen gibt.
Pflegerische Erfahrung
Am besten verdeutlicht dies vielleicht eine Geschichte, die Stationsleiterin Barbara Schmid über einen Patienten mit Autismus erzählt. Der junge Mann mochte nicht einschlafen, ehe sie zusammen mit ihm ein Gebet gesprochen hatte, das stets von einem Flugzeug handeln musste. Ob eines davon mit „Lieber Gott, ich habe Flugzeuge in meinem Bauch“ begann, ist dem Autor nicht bekannt.
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